Vermiss mein nicht
stattfand. Schon die ganze Woche über hatten sich alle äußerst seltsam benommen. Beispielsweise war unsere Lehrerin ein paar Mal in Tränen aufgelöst aus dem Klassenzimmer gelaufen, als ihr Blick auf Jenny-Mays leeren Platz fiel. Aber ich war insgeheim froh. Natürlich wusste ich, dass das falsch von mir war, aber zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich in der Schule meinen Frieden. Keine Papierkügelchen mehr, die Jenny-May in Salven mit einem Strohhalm auf mich abfeuerte, kein Gekicher hinter meinem Rücken, wenn ich in der Klasse eine Frage beantwortete. Mir was klar, dass etwas Schreckliches und Trauriges passiert war, aber ich
fühlte
mich einfach nicht traurig.
In den ersten Wochen nach Jenny-Mays Verschwinden sprachen wir jeden Morgen im Klassenzimmer ein Gebet für sie und für ihre Familie. Doch je mehr die Zeit verstrich, desto kürzer wurden die Gebete, und als wir eines Montagmorgens vom Wochenende zurückkehrten, ließ Ms. Sullivan das Gebet einfach weg, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Die Sitzordnung wurde verändert, die Tische verschoben, und peng – alles war wieder normal. Das fand ich seltsamer als Jenny-Mays Verschwinden. In den ersten Minuten dieses Montags starrte ich die anderen, die brav ihr Gedicht aufsagten, verdutzt an und fragte mich, ob jetzt alle übergeschnappt waren. Aber dann bekam ich von der Lehrerin eine Strafpredigt, weil ich angeblich das Gedicht nicht gelernt hatte – dabei hatte ich am Abend vorher zwei Stunden lang gepaukt –, und sie hackte den Rest des Tages erbarmungslos auf mir herum.
Nachdem Garda Rogers seinen Vortrag beendet hatte, war Garda Brannigan mit näheren Ausführungen zum Thema Jenny-May an der Reihe. Sie forderte uns noch einmal auf, falls wir irgendetwas wussten oder in den letzten Wochen und Monaten irgendetwas beobachtet hatten, bitte in Raum vier neben dem Lehrerzimmer zu erscheinen, wo sie und Garda Rogers den ganzen Tag über zu sprechen waren. Meine Wangen brannten, weil ich das Gefühl hatte, dass alles, was sie sagte, direkt an mich adressiert war – als wäre die ganze Veranstaltung nur meinetwegen inszeniert worden, um mich dazu zu bringen, alles zu gestehen, was ich wusste. Gehetzt blickte ich mich im Saal um, aber niemand sah mich komisch an, außer James Maybury, der sich einen Schorf vom Ellbogen kratzte und in meine Richtung schnippte. Sofort schnalzte unsere Lehrerin mit den Fingern unter seiner Nase herum, was allerdings wenig Wirkung zeitigte, da er mich bereits getroffen hatte. Außerdem hatte er keine Angst, weder vor der Lehrerin noch vor schnalzenden Fingern.
Als der Vortrag zu Ende war, ermunterten die Lehrer uns noch einmal, in Zimmer vier mit den beiden Polizisten zu sprechen, dann war Mittagspause, was eine blöde Maßnahme war, weil keiner von uns Lust hatte, wertvolle Freizeit damit zu vergeuden, dass wir mit der Polizei quatschten. Aber kaum waren wir wieder im Klassenzimmer und Ms. Sullivan ließ uns die Mathebücher hervorholen, da schossen die Hände nur so in die Luft. Auf einmal hatte eine ganze Reihe meiner Mitschüler den Polizisten in Zimmer vier lebenswichtige Informationen zu übermitteln. Aber was sollte Ms. Sullivan tun? Vor Zimmer vier bildete sich bald eine lange Schlange von Schülern aller Altersstufen, und notgedrungen mussten Garda Rogers und Garda Brannigan sie alle anhören, auch wenn manche Jenny-May Butler überhaupt nicht kannten.
Zimmer vier bekam umgehend den Spitznamen »Verhörraum«, und je mehr Schüler hineingingen, desto wilder wurden die Gerüchte, was man dort erlebte. Es gab eine solche Menge von angeblich wichtigen Informationen, dass die beiden Polizisten am nächsten Tag wiederkommen mussten, allerdings wurden die Schüler nun streng ermahnt, dass man zwar jede Hilfe sehr zu schätzen wisse, die Zeit der Polizei jedoch kostbar sei und deshalb nur diejenigen in Zimmer vier vorstellig werden sollten, die wirklich etwas zu sagen hatten. Am zweiten Tag war mir der Zutritt zu Zimmer vier von meiner Lehrerin bereits zweimal verweigert worden, weil ich mich beim ersten Mal in der Geschichtsstunde und beim zweiten Mal in Irisch meldete.
»Aber ich mag Irisch, Miss«, protestierte ich vergeblich.
»Gut, dann freu dich, dass du bleiben darfst«, fauchte sie und befahl mir, ein ganzes Kapitel aus dem Buch vorzulesen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als es am Nachmittag in der Kunststunde noch einmal zu versuchen.
Alle
liebten Kunst. Überrascht sah Ms. Sullivan mich
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