Vermiss mein nicht
für den Vormittag zu unterbrechen, und wurden angewiesen, uns in einer Reihe an der Tür aufzustellen und die Zeigefinger auf die Lippen zu legen. Normalerweise hatte der Finger auf den Lippen nicht die vom Lehrer erhoffte Wirkung, denn ein Finger ist eben nur ein Finger und kein Reißverschluss. Obendrein waren es auch noch unsere eigenen Finger, die wir jederzeit von den Lippen entfernen konnten, wenn uns danach war. So schlau waren wir allerdings erst seit kurzem, denn in jüngeren Jahren hatten wir uns noch einen Bären aufbinden lassen und den Lehrern tatsächlich geglaubt, dass der Finger auf den Lippen uns der Sprache beraubte. In der vierten Klasse waren wir jedoch auf diesem Gebiet bereits erfahrene alte Hasen und gegen Ammenmärchen immun – allen voran James Maybury, der immer Ärger kriegte und sich überhaupt nicht darum scherte. Es kursierte das Gerücht, sein Bruder sei im Gefängnis, deshalb wagte niemand, sich ihm zu widersetzen. Im Fall des Fingers war das eine vertrackte Sache: Wenn man von ihm angesprochen wurde und ihm antwortete, bekam man Ärger mit dem Lehrer, aber wenn man James ignorierte, bekam man Ärger mit ihm, und das war manchmal das größere Risiko. Unter normalen Umständen ging ich bei ihm immer auf Nummer sicher. Wenn er sich beispielsweise einen Stift von mir leihen wollte, gab ich ihm einen grünen, einen blauen, einen roten und einen schwarzen Kuli und dazu noch meinen Füller, damit er sich etwas aussuchen konnte. Ich glaube nicht, dass James jemals wirklich gewalttätig wurde – allein die Tatsache, dass über einen Bruder im Gefängnis gemunkelt wurde, war bedrohlich genug. Doch als wir jetzt die Schulaula betraten, war selbst James Maybury mucksmäuschenstill, weil vorn in dem ungewöhnlich ruhigen Saal zwei Polizisten standen, eine Frau und ein Mann, beide von Kopf bis Fuß in Marineblau.
Zusammen mit den anderen Viertklässlern hockten wir uns mitten in der Aula auf den Boden. Vor uns saßen die Kleineren, und je älter man war, desto weiter hinten durfte man sitzen. Die Sechstklässler thronten cool auf ihren Plätzen in der letzten Reihe. Der Saal füllte sich rasch. Die Lehrer hatten sich an der Wand aufgereiht wie Gefängniswärter. Hie und da schnippten sie mit den Fingern und sahen einen Schüler wütend an, weil er flüsterte oder es sich auf dem kalten und nicht ganz sauberen Turnhallenboden ein bisschen bequemer machen wollte, was als unnötiges Gezappel angesehen wurde.
Unser Direktor stellte uns die beiden Polizisten vor und erklärte, dass sie vom örtlichen Polizeirevier kamen und über ein sehr wichtiges Thema mit uns reden wollten. Danach würden die Lehrer in der Klasse überprüfen, ob wir aufgepasst hatten. Als er das erwähnte, sah ich zu den Lehrern hinüber und merkte, wie ein paar von ihnen sich plötzlich gerade hinstellten und angestrengt lauschten. Dann stellte sich der Mann als Garda Rogers und seine Kollegin als Garda Brannigan vor und erklärte uns, während er mit den Händen auf dem Rücken hin und her marschierte, dass wir keinem Fremden trauen und nie zu einem Unbekannten ins Auto steigen sollten, selbst wenn jemand behauptete, unsere Eltern hätten ihn geschickt, um uns abzuholen. Dabei fiel mir ein, wie ich mich einmal geweigert hatte, zu meinem Onkel Fred ins Auto zu steigen, und ich hätte fast laut gelacht. Garda Rogers schärfte uns ein, immer sofort einem Lehrer oder unseren Eltern Bescheid zu sagen, wenn sich ein Erwachsener uns auf eine Art näherte, die uns unangemessen oder aufdringlich erschien, und wenn wir so etwas bei einem unserer Mitschüler beobachteten. Ich war damals zehn, und ich weiß noch, dass mir sofort einfiel, wie ich mit sieben meiner Lehrerin gemeldet hatte, dass Joey Harrison nach der Schule von einem seltsamen Typen abgeholt worden war. Sie hatte mich ausgeschimpft, weil der komische Typ Joeys Vater war, und sie dachte, ich wäre nur ungezogen.
Mit zehn, fast elf Jahren war dieses ganze Sicherheitsgeschwafel ein alter Hut. Vermutlich war die heutige Warnung mehr für die Fünf- und Sechsjährigen gedacht, die in den ersten Reihen saßen, sich in der Nase bohrten, an die Decke starrten und vor Langeweile kaum noch stillsitzen konnten. Zu diesem Zeitpunkt spürte ich keinerlei Drang, später mal zur Polizei zu gehen – die Gratislektion in Sicherheit weckte in mir keine Ambitionen. Es waren die verschwundenen Socken, die den Ausschlag gaben. Außerdem wusste ich, dass die Veranstaltung wegen Jenny-May
Weitere Kostenlose Bücher