Vermiss mein nicht
Ruttle«, antwortete ich frei heraus, denn ich hoffte ihn immer noch zu finden.
»Hm, den Namen hab ich noch nie gehört«, entgegnete Grace kopfschüttelnd.
»Er ist vierundzwanzig, kommt aus Limerick und hätte letztes Jahr hier eintreffen müssen.«
»Nein«, beharrte Grace, »in unserem Dorf ist er ganz sicher nicht.«
»Ich fürchte, er ist gar nicht hier«, sprach ich meine Gedanken laut aus und spürte sofort Mitleid mit Jack Ruttle.
»Ich stamme aus Killybeggs, einer kleinen Stadt in Donegal. Vielleicht kennen Sie sie?«
»Aber ja«, lächelte ich.
Ihre grünen Augen funkelten, und ihr Gesicht wurde weich. »Ich habe hier geheiratet, aber mein Mädchenname ist O’Donohue. Meine Eltern waren Tony und Margaret O’Donohue. Inzwischen sind sie gestorben, das weiß ich, weil ich den Namen meines Vaters bei den Nachrufen in einer Zeitung entdeckt habe, die vor sechs Jahren hier aufgetaucht ist. Ich hab sie aufgehoben«, fügte sie mit einem Blick zu einem kleinen Schränkchen an der Wand hinzu. »Sie kennen doch Mary Dempsey, richtig?«, fuhr sie dann fort. »Ich glaube, sie spielt in Ihrem Stück mit.«
Ich nickte.
»Sie stammt auch aus Donegal, wie Sie ja wissen, aber sie hat mir vom Tod meiner Mutter erzählt, als sie vor ein paar Jahren hierhergekommen ist.«
»Das tut mir leid.«
»Nun ja«, meinte sie leise, »ich bin ihr einziges Kind. Aber ich habe einen Onkel, Donie, der schon seit längerer Zeit in Dublin wohnt.«
Ich nickte wieder und wartete, dass sie weitererzählte, aber sie verstummte und sah mich gespannt an. Auf einmal begriff ich, dass sie nur meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen und testen wollte, ob ich Donie kannte. »Tut mir leid, Grace«, erklärte ich leise. »Vielleicht war das, bevor ich meine Agentur aufgemacht habe. Wie lange sind Sie denn schon hier?«
»Vierzehn Jahre«, antwortete sie. Anscheinend sah sie mir mein Mitgefühl an, denn sie fügte hastig hinzu: »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin gern hier. Ich habe einen wundervollen Ehemann, drei tolle Kinder und denke nicht im Traum daran zurückzugehen. Ich hab mir nur überlegt …« Sie ließ den Satz unvollendet. »Tut mir leid«, meinte sie dann abschließend, nahm sich sichtlich zusammen und setzte sich wieder kerzengerade auf ihren Stuhl.
»Schon in Ordnung«, beschwichtigte ich sie. »Aber ich kenne die Leute nicht, die Sie genannt haben, tut mir wirklich leid.«
Sie schwieg, und ich dachte schon, ich hätte sie traurig gemacht. Aber als sie weiterredete, machte sie schon wieder einen ganz munteren Eindruck.
»Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, vermisste Leute zu suchen? Das ist doch ein ziemlich ungewöhnlicher Beruf.«
»Tolle Frage!«, lachte ich und dachte zurück, wie alles angefangen hatte. »Ein Name erklärt alles – Jenny-May Butler. Sie hat im Haus gegenüber gewohnt, in Leitrim, als ich klein war. Und als ich zehn war, ist sie verschwunden.«
»Ja«, bestätigte Grace und lächelte. »Warum sollte Jenny-May nicht der Grund für eine ausgefallene Berufswahl sein! Sie ist ja auch ein echtes Original.«
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was sie da sagte. Aber dann begann mein Herz wie wild zu klopfen. »Wie bitte? Was haben Sie da gerade gesagt?«
Fünfzig
»Komm runter, Bobby, schnell!«, schrie ich durch die Ladentür.
»Was ist denn los?«, antwortete er von oben.
»Bring die Kamera und deinen Schlüssel, schließ ab und lass uns gehen. Wir müssen los!«, krakeelte ich. Die Tür fiel wieder zu, und ich wanderte auf der Veranda hin und her, Graces Worte noch lebhaft im Ohr. Sie kannte Jenny-May und hatte mir sofort eine Wegbeschreibung gegeben. Ich musste sie finden, sofort! Meine Aufregung hatte den Siedepunkt bereits überschritten, kochte über und überschwemmte mich, während ich tatenlos dastand und auf Bobby wartete. Er musste mir den Weg zu Jenny-Mays Haus im Wald zeigen. Aber ich hatte nicht einmal genug Geduld, um ihm richtig zu erklären, was ich wollte.
Mit völlig verwirrtem Gesicht erschien er jetzt an der Tür. »Was zum Teufel machst du denn …?« Als er mich sah, unterbrach er sich. »Was ist passiert?«
»Hol schnell deine Sachen, Bobby, bitte«, flehte ich und schob ihn zurück ins Fundbüro. »Ich erklär dir alles unterwegs. Und vergiss nicht die Kamera.« Während er unbeholfen alles zusammenklaubte und versuchte, meinen zusammenhanglosen Befehlen nachzukommen, hüpfte ich nervös um ihn herum. Endlich war er fertig, und schon
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