Vermiss mein nicht
auch Markus ein.
»Ah, genau!« Alle waren erleichtert, und Derek klimperte wieder los.
Doch meine Gänsehaut hielt sich hartnäckig. Ich fröstelte.
Auf einmal sah ich die fünf Freunde mit ganz anderen Augen an, studierte die Gesichter, erkannte vertraute Züge und ließ zu, dass das, was ich als kleines Mädchen gehört hatte, in meine Erinnerung zurückkehrte. Auf einmal war es wieder so deutlich wie damals, als ich bei der Recherche für ein Schulprojekt im Computerarchiv auf die Geschichte gestoßen war. Sie hatte mich natürlich sofort interessiert, und ich hatte weitere Nachforschungen angestellt. Von der Titelseite einer Zeitung blickten fünf Teenager mich lächelnd an, und wenn ich mich umschaute, erkannte ich die gleichen Gesichter.
Derek Cummings, Joan Hatchard, Bernard Lynch, Marcus Flynn und Helena Dickens. Fünf Schüler des Internats St. Kevin’s. In den sechziger Jahren waren sie bei einem Campingausflug mit der Schule verschwunden, und man hatte sie nie wiedergefunden. Aber hier standen sie vor mir, älter, klüger und wahrscheinlich nicht mehr so naiv.
Ich hatte sie gefunden.
Zehn
Als ich vierzehn war, überredeten meine Eltern mich dazu, montags nach der Schule einen Therapeuten aufzusuchen. Sie mussten sich nicht sonderlich anstrengen, denn sobald sie mir sagten, dass dieser Mensch ein langes Studium absolviert hatte und mir bestimmt alle meine Fragen beantworten konnte, gab es für mich kein Halten mehr.
Mir war inzwischen klar, dass meine Eltern glaubten, sie hätten versagt. Das merkte ich an ihren Gesichtern, als sie mich zu sich an den Küchentisch holten, auf dem mal wieder Milch und Kekse standen, während im Hintergrund zur Ablenkung die Waschmaschine lief. Mum hielt ein zusammengerolltes Taschentuch in der Hand, als hätte sie es gerade noch benutzt, um sich die Tränen abzuwischen. Das war das Ding mit meinen Eltern – sie wollten mich ihre Schwächen nicht sehen lassen, aber sie vergaßen regelmäßig, die entsprechenden Indizien wegzuräumen. Sie verbargen die Tränen, aber nicht das zusammengeknüllte Taschentuch. Dad brachte seinen Ärger und seine Enttäuschung darüber, dass er mir nicht helfen konnte, nie in meiner Gegenwart zum Ausdruck, aber ich sah beides in seinen Augen. Überall hinterließen sie Beweise.
»Ist alles okay?«, fragte ich und blickte vom einen zum anderen. Nur wenn etwas Schlimmes passiert, sehen Leute so bewusst zuversichtlich aus, so, als könnte nichts sie schrecken. »Ist was passiert?«
»Nein, nein, Honey«, lächelte mein Vater. »Mach dir keine Sorgen, es ist nichts Schlimmes passiert.«
Während er das sagte, sah ich, wie Mum eine Augenbraue hochzog, und wusste, dass sie nicht seiner Meinung war. Mehr als einmal hatte ich ihre endlosen Diskussionen darüber gehört, was die richtige Methode war, mit meinem sonderbaren Verhalten umzugehen. Sie hatten mir geholfen, wo und wie sie dazu fähig waren, und jetzt spürte ich, wie enttäuscht sie von sich waren. Ich hasste mich dafür, dass sie sich meinetwegen so fühlten. Ich hasste es, dass sie so tun mussten, als wäre alles in Ordnung, obwohl sie sich insgeheim so schreckliche Sorgen machten. Ich hasste es, dass meine Fragen daran schuld waren.
»Es geht darum, dass du immer so viele Fragen stellst, verstehst du, Honey?«, erklärte Dad.
Ich nickte.
»Nun, deine Mum und ich«, begann er, sah sie hilfesuchend an, und sofort wurde ihr Blick sanfter. »Tja, deine Mum und ich haben jemanden gefunden, mit dem du über all deine Fragen reden kannst.«
»Einen Menschen, der mir alle Fragen beantworten kann?« Ich riss die Augen auf, und mein Herz begann zu pochen. Womöglich würde ich jetzt endlich alle Geheimnisse des Lebens erfahren!
»Ich hoffe es, Honey«, antwortete Mum. »Ich hoffe, dass du, wenn du eine Weile mit ihm redest, irgendwann keine so schwierigen Fragen mehr hast. Er weiß viel mehr über die Dinge, wegen denen du dir Sorgen machst, als wir.«
Jetzt machte Dad ein trauriges Gesicht. Wussten sie denn nicht, dass mein Röntgenblick auch dann auf ihnen ruhte, wenn sie gerade nicht mit Reden an der Reihe waren? Zeit für die Blitzfragen. Nur nicht den Finger vom Drücker nehmen.
»Wer ist es denn?«
»Mr. Burton.« Ein Punkt für Dad.
»Wie heißt er mit Vornamen?«
»Gregory.« Einer für Mum.
»Wo arbeitet er?«
»In der Schule.« Schon wieder Mum.
»Wann geh ich zu ihm?«
»Montags nach der Schule. Eine Stunde.« Mum. Sie beherrschte das Spiel besser als Dad, denn
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