Vermiss mein nicht
Menschen besaßen nichts. Nichts als kleine, mit Teebeuteln, unnötigem Porzellan und Keksen vollgestopfte Reisetaschen, ein paar Decken und Schlafsäcke, Umhänge und Pullover gegen die Kälte – zweifellos alles aus den Beständen, die in der Umgebung herumlagen. Diese fünf Leute schliefen in Decken gehüllt unter dem Sternenhimmel, ein Feuer und die Sonne als einzige Licht- und Wärmequellen. Und das seit vierzig Jahren! Wie konnten sie glücklich sein? Wie war es möglich, dass sie nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um in ihre frühere Existenz zurückzukehren, zu materiellen Besitztümern, zu anderen, neuen Menschen?
Verwundert schüttelte ich den Kopf.
Helena lachte. »Warum wundert Sie das?«
»Tut mir leid.« Irgendwie war es mir peinlich, dabei erwischt zu werden, wie ich diese Menschen, die doch ganz zufrieden zu sein schienen, bemitleidete. »Es ist nur, dass es mir vorkommt, als wären vierzig Jahre eine schrecklich lange Zeit, um sich, na ja …« – ich schaute wieder über die Lichtung – »… um sich mit diesem Leben hier zufriedenzugeben.«
Helena machte ein erstauntes Gesicht.
»Oh, entschuldigen Sie«, ruderte ich sofort zurück. »Ich wollte Sie wirklich nicht kränken …«
»Sandy, Sandy«, fiel sie mir ins Wort. »Das hier ist doch nicht unsere ganze Welt!«
»Ich weiß, ich weiß, Sie haben einander und …«
»Nein!« Jetzt lachte Helena laut. »Tut mir leid, aber ich habe gedacht, Sie wüssten, dass wir nicht permanent so unterwegs sind. Einmal im Jahr, am Jahrestag unseres Verschwindens, machen wir gemeinsam einen Ausflug. Auf dieser Lichtung hier sind wir vor vierzig Jahren angekommen, es ist der Ort, an dem uns zum ersten Mal klar wurde, dass wir nicht mehr zu Hause sind. Sonst bleiben wir zwar in Kontakt, führen aber mehr oder weniger getrennte Leben.«
»Was?« Jetzt war ich verwirrt.
»Menschen verschwinden dauernd, das wissen Sie ja. Wenn sie hier zusammenkommen, beginnt Leben, entwickelt sich Zivilisation. Eine Viertelstunde Fußweg von hier hört der Wald auf, und ein ganz neues Leben fängt an.«
Ich war sprachlos. Mein Mund öffnete und schloss sich, aber es kam kein Wort heraus.
»Ich bringe Sie gern hin«, bot Helena mir lachend an.
Sofort rappelte ich mich auf. »Gut, gehen wir. Wir brauchen die anderen ja nicht zu stören.«
»Nein.« Auf einmal war Helenas Stimme hart, ihr Lächeln verblasste. Sie packte meinen Arm, so fest, dass ich mich kaum bewegen konnte, obwohl ich mich zu wehren versuchte. Ihr Gesicht war wie Stein. »Wir gehen nicht einfach voneinander weg, wir verschwinden nicht. Wir bleiben hier sitzen, bis die anderen aufwachen.«
Dann ließ sie meinen Arm abrupt los und zog den Pashminaschal enger um sich. Plötzlich war sie wieder ganz auf der Hut, wie vorhin, als ich angekommen war. Sie beobachtete ihre Freunde so aufmerksam, als würde sie Wache schieben, und mir wurde klar, dass es nicht nur meine Gegenwart gewesen war, die sie wach gehalten hatte. Sie war an der Reihe aufzupassen.
»Wir bleiben, bis sie aufwachen«, wiederholte sie mit fester Stimme, ohne ihre Freunde aus den Augen zu lassen.
* * *
Jack saß auf der Bettkante und sah Gloria zu, die mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht friedlich schlief. Es war früh am Montagmorgen, und er war gerade nach Hause gekommen. Nachdem Sandy Shortt nicht erschienen war, war er den ganzen Tag durch die Bed & Breakfasts und Hotels in den umliegenden Ortschaften gezogen, um nachzufragen, ob sie irgendwo eingecheckt hatte. Er redete sich ein, dass ihr Fernbleiben keineswegs das Ende ihrer gemeinsamen Suche nach Donal war – es gab doch so vieles, was sie daran gehindert haben konnte, ins Café zu kommen! Vielleicht hatte sie verschlafen und deshalb den Termin verpasst, vielleicht war sie durch irgendetwas in Dublin aufgehalten worden und hatte nicht nach Limerick aufbrechen können. Vielleicht hatte es einen Todesfall in ihrer Familie gegeben, oder es war plötzlich eine Spur in einem anderen Fall aufgetaucht, der sie nachgehen musste. Vielleicht war sie genau in diesem Augenblick schon unterwegs nach Glin. Er hatte sich endlose Möglichkeiten ausgedacht, aber keine davon enthielt den Gedanken, dass sie ihn absichtlich versetzt hatte.
Irgendetwas war einfach nicht nach Plan gelaufen. Morgen würde er in der Mittagspause noch einmal nach Glin fahren und sehen, ob er sie erwischte. Die ganze Woche hatte er sich auf das Treffen gefreut, da konnte er jetzt doch nicht
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