Vermiss mein nicht
damals war.« Sie hielt inne und lauschte. »Das Lachen und der Geruch kommen grade in die Atmosphäre rein. Was wissen Sie bisher über die Leute, die hier sind?«
»Dass sie verschwunden sind.«
»Genau. Genau wie sie sind auch Geräusche und Gerüche verschwunden.«
»Wie kann das sein?«, fragte ich total verwirrt.
»Manchmal verlieren Menschen mehr als nur ihre Socken, Sandy. Man kann ja auch vergessen, wo man sie hingetan hat. Sachen zu vergessen bedeutet doch nur, dass etwas aus dem Gedächtnis verschwunden ist.«
»Aber man kann sich auch wieder daran erinnern.«
»Ja, manchmal findet man auch die Socken wieder, was dann heißt, dass man sie verlegt hatte. Aber man erinnert sich nicht an
alles
, und man findet auch nicht
alles
. Und das, was nicht gefunden wird und an das man sich auch nicht wieder erinnert, landet hier, beispielsweise die Berührung oder der Geruch eines Menschen, die exakte Erinnerung an sein Gesicht oder den Klang seiner Stimme.«
»Seltsam.« Ich schüttelte den Kopf. Es fiel mir schwer, das alles zu verdauen.
»Eigentlich ist es ganz einfach, wenn Sie es sich folgendermaßen vorstellen: Alles im Leben hat seinen Platz, und wenn sich etwas von diesem Platz wegbewegt, muss es anderswohin. Und hier ist der Ort, wo es landet«, endete sie mit einer Geste in die Runde.
Auf einmal kam mir ein Gedanke. »Haben Sie auch schon mal Ihr eigenes Lachen oder Ihre eigene Stimme gehört?«
»Ja, schon oft«, antwortete Helena mit einem traurigen Nicken.
»Schon oft?«, hakte ich überrascht nach.
Sie lächelte. »Na ja, ich hatte das Privileg, dass viele Leute mich mochten. Je mehr Leute einen mögen, desto mehr Leute gibt es da draußen, die Erinnerungen verlieren können. Machen Sie nicht so ein Gesicht, Sandy, das ist nicht so schlimm, wie es sich erst mal anhört. Schließlich verlieren die Menschen ihre Erinnerungen ja nicht absichtlich. Obwohl, es gibt ja immer was, das man lieber vergessen würde.« Helena zwinkerte mir zu. »Es kann gut sein, dass der ursprüngliche Klang meines Lachens durch eine neue Erinnerung ersetzt ist. Ich bin sicher, auch die Erinnerung, die ich an das Gesicht meiner Mutter habe, unterscheidet sich davon, wie sie wirklich aussah; aber wie soll mein Gehirn das nach vierzig Jahren ohne Gedankenstütze auch noch genau wissen? Man kann die Dinge nicht für immer bewahren, egal, wie gut man sie festhält.«
Ich dachte an den Tag, an dem ich mein eigenes Lachen über meinen Kopf hinwegziehen hören würde, und ich wusste, das würde nur einmal passieren, weil es nur einen einzigen Menschen gab, der den wahren Klang meines Lachens und meiner Stimme kannte.
»Trotzdem möchte man diese Erinnerungen manchmal gern einfangen und zu den Leuten daheim zurückwerfen«, setzte Helena hinzu und sah zum Himmel empor. In ihren Augen standen Tränen. »Unsere Erinnerungen sind der einzige Kontakt, den wir zu ihnen noch haben. In Gedanken können wir sie immer wieder umarmen, küssen, mit ihnen lachen und weinen. Deshalb sind Erinnerungen sehr kostbar.«
Unermüdlich trug der Wind neues Kichern, Zischen, Schnauben und Prusten heran, die leichte Brise brachte einen zarten vergessenen Kindheitsduft, aus einer Küche, in der gebacken worden war. Es gab ältere, dumpfere Gerüche von Lieblingsgroßeltern, Lavendel für Oma, Pfeife für Opa; den Duft einer verlorenen Liebe, süßes Parfüm oder Aftershave, nach Ausschlafen am Sonntagmorgen oder einfach den einzigartigen Geruch, den eine Person in einem Raum hinterlässt. Der Duft eines Menschen ist so wertvoll wie der Mensch selbst. All diese Aromen waren aus dem Leben verschwunden und hier gelandet. Ich musste unwillkürlich die Augen schließen, die Düfte einatmen und mit dem Gelächter mitlächeln.
In diesem Moment bewegte sich Joan in ihrem Schlafsack, und mein Herz begann erwartungsvoll zu klopfen. Würde ich bald die Gegend jenseits des Waldes kennenlernen?
»Guten Morgen, Joan«, platzte Helena so laut heraus, dass sie Bernard gleich mit weckte. Mit einem Ruck hob er den Kopf, von dem die Spaghettihaare jetzt in die falsche Richtung baumelten. Verschlafen blickte er um sich und tastete mit der Hand nach seiner Brille.
»Guten Morgen, Bernard«, sagte Helena, und diesmal schaffte sie es, sowohl Marcus als auch Derek aus dem Schlaf zu holen.
Nur mit Mühe konnte ich mir ein Lachen verkneifen.
»Hier, ein bisschen schöner heißer Kaffee, damit ihr wach werdet«, sagte sie und hielt jedem einen dampfenden Becher unter
Weitere Kostenlose Bücher