Vermiss mein nicht
Berührung beruhigte mich nicht, und ich konnte einfach nicht aufhören zu zittern.
»Du zitterst ja«, meinte sie sanft, legte den Arm um mich und zog mich an sich. Ich nahm zur Kenntnis, wie fürsorglich sie plötzlich klang und dass sie mich duzte. »Es ist alles okay, du brauchst keine Angst zu haben. Hier bist du in Sicherheit.«
Aber mangelnde Sicherheit war nicht der Grund meines Zitterns, sondern die Tatsache, dass ich nie das Gefühl gehabt hatte, irgendwohin zu gehören. Mein Leben lang hatte ich alle auf Distanz gehalten, die mir nahe sein wollten, egal ob Freunde, Verwandte oder Geliebte, denn sie konnten meine Fragen nicht beantworten und meine Suche weder tolerieren noch verstehen. Immer hatte man mir den Eindruck vermittelt, dass mit mir etwas nicht ganz stimmte, dass meine Leidenschaft zu suchen und zu finden verrückt war. Dieser Ort hier erschien mir wie die Antwort auf eine Frage, die mich mein Leben lang umgetrieben und der ich alles geopfert hatte. Die Menschen hier waren die, an die ich mich geklammert hatte. Wenn ich mir im Haus meiner Eltern in Leitrim schnell die Tasche neben der Tür geschnappt hatte und weggelaufen war, wenn ich Beziehungen abgebrochen und Einladungen ausgeschlagen hatte, dann war das wegen dieser Leute geschehen, denen ich nun entgegenging.
Aber jetzt, wo ich sie gefunden hatte, wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Achtzehn
Sobald wir aus dem Wald kamen, wurde die Welt schlagartig bunt. Mir stockte der Atem. Es war, als ob ein riesiger roter Vorhang über einer so detailreichen Szenerie aufgegangen wäre, dass ich kaum wusste, wo ich zuerst hinschauen sollte. Vor uns lag ein Dorf, in dem offensichtlich Menschen aller Nationalitäten wohnten. Manche schlenderten allein einher, andere gingen zu zweit, zu dritt oder in Gruppen herum. Ich sah Trachten, hörte ein Gewirr von Sprachen, roch den Duft von Spezialitäten aus aller Welt. Ein prächtiges, lebendiges Bild, das vor lauter Farben aus dem Rahmen zu platzen schien. Wir waren dem Weg wie einer Arterie ins Herz des Waldes gefolgt – und hier schlug es und pumpte Menschen in alle Richtungen. Aufwendige Holzhäuser mit kunstvoll verzierten Türen und Fenstern säumten die Straße. Jedes Gebäude bestand aus einer anderen Holzart, mit unterschiedlichem Farbton und unterschiedlicher Maserung, wodurch das Dorf fast wie ein Teil des Waldes wirkte. Auf den Dächern erkannte ich Sonnenkollektoren, Windräder reckten ihre Flügel in den blauen Himmel, und ihre Schatten kreisten über Hausdächern und Straßen. Eingekuschelt lag das Dorf zwischen Wald und Hügeln, bewohnt von Menschen in traditioneller Kleidung aus allen möglichen Epochen, und alles machte einen vollkommen realen Eindruck, roch real, und wenn jemand mich im Vorbeigehen streifte, fühlte sich auch die Berührung real an. War das denn zu glauben?
Die Szenerie war gleichzeitig vertraut und fremd, denn alles, was ich sah, ähnelte dem, was ich kannte, nur in einem ganz anderen Zusammenhang. Wir waren nicht in die Vergangenheit oder in die Zukunft gereist, nein, wir befanden uns in einer vollkommen anderen Zeit. Ein riesiger Schmelztiegel der Nationen, in dem sich Kulturen, Formen und Klänge vermischten, sodass eine völlig neue Welt entstand. Kinder spielten, Marktstände schmückten die Straße, von Kundschaft umschwärmt. So viele Farben, so viele Geräusche, die ich noch in keinem anderen Land gehört hatte. Neben uns stand ein Schild mit der Aufschrift
Hier.
Helena hakte sich bei mir unter. Normalerweise hätte ich sie abgeschüttelt, aber jetzt brauchte ich sie, um aufrecht zu bleiben. Es war überwältigend, und ich fühlte mich wie Ali Baba, der gerade in die Schatzhöhle gestolpert ist, wie Galileo mit seinem Teleskop – aber vor allem wie ein zehnjähriges Mädchen, das plötzlich alle fehlenden Socken wiedergefunden hat!
»Hier ist jeden Tag Markt«, erklärte Helena mir leise. »Viele Leute tauschen gern die Sachen, die sie gefunden haben, gegen andere, gleichwertige Dinge – oder manchmal auch gegen völlig wertloses Zeug, denn inzwischen ist das Tauschen so eine Art Sport geworden. Geld hat hier sowieso keinen Wert, weil wir alles, was wir brauchen, auf der Straße finden, sodass wir für unseren Lebensunterhalt nicht arbeiten und nicht bezahlen müssen. Allerdings haben wir im Dorf alle unsere Aufgabe, eingeteilt nach Alter, Gesundheitszustand und anderen persönlichen Faktoren. Eher ein sozialer Dienst, keine Arbeit zum eigenen
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