Vermiss mein nicht
die Nase.
Verwirrt und schlaftrunken sahen sie ihre Freundin an. Kaum hatten sie den ersten Schluck getrunken, warf Helena auch schon ihre Decke zurück und stand auf.
»Genug rumgehangen, machen wir uns auf die Socken!«, rief sie und begann, ihren Schlafsack zusammenzurollen und die mitgebrachten Sachen zu verstauen.
»Warum redest du so laut, und wozu die Eile?« Joan hielt sich den vom Schlaf zerzausten Kopf und sprach im Flüsterton, als hätte sie einen Kater.
»Es ist ein nagelneuer Tag, trinkt aus! Sobald ihr fertig seid, können wir losziehen.«
»Warum?«, fragte Joan, beeilte sich aber mit ihrem Kaffee.
»Was ist mit dem Frühstück?«, erkundigte sich Bernard mit weinerlicher Stimme, wie ein Kind.
»Wir frühstücken, wenn wir zurück sind«, verkündete Helena, nahm Bernard den Becher ab, schüttete den restlichen Kaffee über die Schulter und packte den Becher weg. Weil ich Angst hatte, laut loszuprusten, schaute ich lieber weg.
»Was soll denn die Hetze?«, fragte jetzt auch Marcus. »Ist irgendwas passiert?« Er sah Helena aufmerksam an, und ich hatte den Eindruck, dass meine Gegenwart ihn verunsicherte.
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung, Marcus«, beruhigte Helena ihn und legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. »Sandy muss nur etwas erledigen«, fügte sie hinzu und grinste mich an.
Davon wusste ich noch gar nichts.
»Oh, das ist ja schön! Bestimmt inszenieren Sie ein Theaterstück, ja? Es ist schon so lange her, seit wir so was gemacht haben!« Joan war ganz aufgeregt.
»Ich hoffe sehr, Sie sagen uns rechtzeitig Bescheid, wann wir zum Vorsprechen erscheinen sollen. Wir brauchen Zeit, um uns vorzubereiten, weil wir ein bisschen eingerostet sind«, meinte Bernard besorgt.
»Keine Panik«, antwortete Helena. »Sandy kümmert sich schon um alles.«
Mir blieb der Mund offen stehen, aber Helena hob schnell die Hand, damit ich nicht protestierte.
»Haben Sie schon mal dran gedacht, ein Musical auf die Bühne zu bringen?«, wollte Derek wissen, während er seine Gitarre einpackte. »Daran besteht sehr großes Interesse.«
»Das wäre sehr gut möglich«, erwiderte Helena in einem Ton, als würde sie einem Kind etwas erklären.
»Sprechen wir als Gruppe vor?«, erkundigte sich Bernard erschrocken.
»Nein, nein«, grinste Helena, und jetzt kapierte ich allmählich, was sie vorhatte. »Ich denke, Sandy wird sich mit jedem von euch unter vier Augen treffen. Na gut«, fuhr sie fort, während sie Bernard die Decke von den Schultern nahm und zusammenfaltete, der sie mit offenem Mund anstarrte, »dann machen wir uns lieber mal fertig, damit wir Sandy die Gegend zeigen können. Schließlich muss sie einen guten Ort für die Aufführung finden.«
Es war erstaunlich, wie rasch auch Bernard und Joan jetzt in die Gänge kamen.
»Ach ja, ich wollte Sie noch was fragen: Waren Sie bei der Arbeit, als Sie hierhergekommen sind?«, flüsterte Helena mir zu.
»Was meinen Sie?«
»Ob Sie gerade einer Spur gefolgt sind, als Sie hier ankamen? So eine wichtige Frage, und ich hab völlig vergessen, sie zu stellen.«
»Die Antwort ist ja und nein«, erwiderte ich. »Ich bin am Shannon Estuary gejoggt, bevor ich hier gelandet bin, aber der Grund, warum ich in Limerick war, hatte mit meiner Arbeit zu tun. Vor fünf Tagen habe ich mit einem neuen Fall angefangen.« Ich dachte an die nächtlichen Anrufe von Jack Ruttle.
»Ich wollte das nur wissen, weil ich mich frage, was von all den verschwundenen Leuten, die Sie schon gesucht haben, gerade an
diesem
Menschen dran war. Vielleicht gibt uns das einen Hinweis, warum Sie jetzt hier sind. Hatten Sie eine starke Verbindung zu ihm?«
Ich schüttelte den Kopf, obwohl mir bewusst war, dass ich ein kleines bisschen schwindelte. Die Telefongespräche mit Jack Ruttle waren ganz anders gewesen als meine sonstigen Fälle. Es hatte mir Spaß gemacht, mich mit ihm zu unterhalten, ich hatte mit ihm auch über andere Dinge sprechen können, nicht nur über Geschäftliches. Je länger ich mit dem netten Jack redete, desto mehr strengte ich mich an, seinen Bruder zu finden. In meinem Leben gab es sonst nur einen einzigen Menschen, bei dem ich mich so fühlte.
»Wie ist der Name dieser vermissten Person?«
»Donal Ruttle«, sagte ich, während ich mir die schelmischen blauen Augen auf dem Foto ins Gedächtnis rief.
Einen Moment schwieg Helena nachdenklich. »Tja, dann können wir ja gleich mit ihm anfangen. Kennt irgendjemand hier einen Donal Ruttle?«, fragte
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