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Vermiss mein nicht

Vermiss mein nicht

Titel: Vermiss mein nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cecelia Ahern
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neu geboren, nachdem ich in der letzten Nacht mehr geschlafen hatte als wahrscheinlich in meinem gesamten Erwachsenenleben. Seit Jenny-May genau genommen.
    »Seit Jenny-May
was
?«, fragte Gregory mich immer. »Meinst du, seit sie verschwunden ist?«
    »Nein, seit Jenny-May. Punkt«, erwiderte ich mit schläfrigem Gähnen.
    An diesem Morgen begegnete ich jemandem, den ich seit zwölf Jahren suchte. Helena hatte mich weitergezerrt, mich daran gehindert, ständig Mund und Nase aufzusperren, und vor meinen Augen mit den Fingern geschnippt, damit ich nicht so glotzte. Ihre Präsenz überwältigte mich, dabei war ich sonst nie überwältigt. Ich war sprachlos, dabei wusste ich sonst immer etwas zu sagen. Auf einmal fühlte ich mich einsam, dabei hatte ich mit dem Alleinsein nie ein Problem. Nach so vielen Jahren des Suchens konnte ich doch unmöglich so ruhig und gelassen reagieren wie Helena, wenn mir plötzlich am helllichten Tag die Gesichter begegneten, die ich bisher nur in meinen Träumen gesehen hatte.
    »Beruhige dich«, murmelte Helena mir mehr als einmal ins Ohr.
    Robin Geraghty war der erste meiner Geister, der vorbeischwebte. Wir saßen gerade im Speisehaus, einem hinreißenden Holzbau mit zwei Stockwerken und einem rundlaufenden Balkon, von dem man einen wundervollen Blick über Wald, Berge und Felder hatte. Anders als ich befürchtet hatte, besaß das Lokal keinerlei Ähnlichkeit mit einer drängligen Schulkantine, obwohl alle Dorfbewohner zu den Mahlzeiten herkamen – eine Methode, die eingeführt worden war, um die Lebensmittel, die gesammelt und angebaut wurden, besser einteilen zu können. Geld hatte hier keinen Wert, nicht einmal, wenn dicke Brieftaschen irgendwo auf der Schwelle lagen. »Warum sollten wir Geld für etwas ausgeben, was wir jeden Tag im Überfluss umsonst kriegen?«, meinte Helena als Erklärung.
    Auf der Vorderseite des Gebäudes gab es ähnlich kunstvolle Schnitzereien wie an der Registratur. Wegen der vielen verschiedenen Sprachen, erklärte Helena, eigneten sich Schnitzereien am besten, um den Zweck eines Hauses deutlich zu machen, und außerdem waren sie wunderschön. Übergroße Traubenbündel, Wein und Brot schmückten den Eingang, und die Sachen sahen selbst in hölzerner Form so lecker aus, dass ich nicht umhinkonnte, mit der Hand über die seidenglatte Wölbung einer Beere zu streichen.
    Als ich vom Büfett zurückkam, entdeckte ich Robin, und um ein Haar wäre mir mein Frühstückstablett mit Doughnuts und Frappuccino aus der Hand gerutscht. (Zu meiner großen Freude war anscheinend eine Kiste mit lauter leckeren Sachen von einem Krispy-Kreme-Lieferwagen gefallen und am Dorfrand aufgetaucht. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie der Fahrer des Wagens sich verwundert am Kopf kratzte, auf sein Klemmbrett starrte, das Zetern des gestressten Ladenbesitzers zu ignorieren versuchte und immer wieder den Inhalt seines Vans kontrollierte, der auf einem hektischen Lieferparkplatz vor einem Laden in Downtown New York stand, während hier eine ganze Schlange hungriger Menschen die verschwundenen Köstlichkeiten nach Herzenslust genoss.) Dank Robins unerwartetem Auftauchen hüpfte mein Frappuccino in die Höhe, als hätte er ebenfalls einen Schreck gekriegt, und ich hätte mir fast die Hand verbrüht.
    Robin Geraghty war mit sechs Jahren verschwunden, als sie um elf Uhr vormittags in einer Vorstadt nördlich von Dublin zum Spielen in den Garten ging. Fünf nach elf wollte ihre Mutter nach ihr sehen, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Alle, wirklich alle – die Familie, das ganze Land, die Polizei, zu der ich damals auch noch gehörte –, waren der Überzeugung gewesen, ihr Nachbar hätte sie entführt. Der fünfundfünfzigjährige Dennis Fairman war ein seltsamer Mensch, ein Einzelgänger, der mit niemandem sprach außer mit Robin, was Robins Eltern schon lange Sorgen machte.
    Er schwor, nichts mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben, und beteuerte seine Unschuld, indem er immer wieder vorbrachte, Robin sei doch seine Freundin, und er könne seiner Freundin niemals etwas zuleide tun. Aber niemand glaubte ihm, ich inbegriffen. Seine Schuld konnte nie bewiesen werden, es gab ja nicht einmal eine Leiche. Doch der arme Mr. Fairman wurde von seinen Nachbarn so gequält, dass er schließlich seinem Leben selbst ein Ende setzte. Für Robins Eltern und alle anderen war das natürlich ein Eingeständnis seiner Schuld. Doch als mir jetzt eine achtzehnjährige Robin entgegenkam und

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