Vermiss mein nicht
nein«, grinste Helena. »Bei der Aufführung haben dann ja alle die Chance, sich auf unsere Kosten schiefzulachen.«
»Bei der Aufführung? Du meinst, wir machen das in echt?«, fragte ich und riss die Augen auf.
»Natürlich! Wir lassen doch nicht zwanzig Leute zum Vorsprechen antanzen und sagen ihnen dann, oh, Entschuldigung, aber es gibt gar kein Theaterstück. Allerdings müssen wir uns noch Gedanken darüber machen, was für ein Stück es sein soll.«
Prompt kehrten meine Kopfschmerzen zurück. »Sobald ich heute mit ihnen rede, merken doch alle, dass ich genauso wenig eine Schauspielagentur leite wie Bernard eine Chance hat, jemals eine Hauptrolle zu ergattern.«
Aber Helena winkte ab. »Keine Sorge, die werden keinen Verdacht schöpfen, und wenn doch, ist es ihnen egal. Die Leute erfinden sich gern selbst immer wieder neu, für sie ist ihr Aufenthalt hier so etwas wie eine zweite Chance im Leben. Wenn du zu Hause keine Schauspielagentin warst, heißt das noch lange nicht, dass du hier keine sein kannst. Je länger du hier bist, desto mehr wirst du merken, dass die Atmosphäre richtig gut ist.«
Das war mir sogar schon aufgefallen. Entspannte Stimmung, friedliche Menschen, die ihren täglichen Pflichten effizient, aber ohne Stress und Hetze nachgingen. Man hatte Luft zum Atmen, Raum zum Denken und die Chance, neue Erfahrungen zu machen. Einst verlorene Menschen nahmen sich Zeit innezuhalten, zu lieben, zu vermissen und sich zu erinnern. Dazuzugehören war wichtig, selbst wenn es bedeutete, bei einem albernen Theaterstück mitzumachen
»Wird es Joseph nicht stören, dass er nicht mitmachen kann?«
Helena lachte laut. »O nein, das macht ihm garantiert nicht das Geringste aus.«
»Kommt Joseph eigentlich aus Kenia?«
»Ja.« Wir machten kehrt und wanderten zum Dorf zurück. »Er hat an der Küste von Watamu gelebt.«
»Wie hat er mich gestern genannt?«
Sofort veränderte sich Helenas Gesicht, und sie spielte die Unwissende. »Was meinst du?«
»Ach komm, Helena, ich hab dich gesehen, als er das gesagt hat. Du warst total überrascht. Aber ich kann mich nicht mehr richtig an das Wort erinnern, Killa … Kappa irgendwas. Was heißt das denn?«
In gespielter Verwirrung legte sie die Stirn in Falten. »Tut mir leid, Sandy, ich erinnere mich ehrlich nicht.«
Ich glaubte ihr keine Sekunde. »Hast du ihm erzählt, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene?«
Jetzt nahm ihr Gesicht den gleichen neugierigen Ausdruck an wie gestern. »Natürlich weiß er es jetzt, aber da noch nicht.«
»Was meinst du mit
da
?«
»Als er dich kennengelernt hat.«
»Natürlich nicht, er hat ja vermutlich keine übersinnlichen Fähigkeiten. Ich will nur wissen, was er gesagt hat.« Vor lauter Frust blieb ich stehen. »Helena, bitte, sei ehrlich, ich kann Geheimnisse nicht leiden.«
Sie wurde rot. »Dann musst du ihn fragen, Sandy, ich weiß es nämlich wirklich nicht. Was immer er gesagt hat, es war bestimmt Kisuaheli, und damit kenne ich mich nicht aus.«
Ich wusste, dass sie schwindelte. Schweigend gingen wir weiter. Ich sah wieder auf meine Uhr, und auf einmal machte mich die Aussicht darauf, demnächst einer Reihe von verloren geglaubten Menschen Neuigkeiten von ihren Familien zu überbringen, wieder nervös. Jeden Abend schickten die Zurückgebliebenen ihre Gebete und guten Wünsche hierher, aber ich hatte Angst, dass ich diese Gefühle nicht angemessen übermitteln konnte. Was ich Helena gestern gesagt hatte, stimmte – ich war kein geselliger Mensch. Dass ich die Leute, die ich gesucht hatte, hier fand, bedeutete noch lange nicht, dass ich auch Zeit mit ihnen verbringen wollte. Wenn ich wissen wollte, wo Jenny-May geblieben war, hieß das nicht, dass ich mir wünschte, sie würde zurückkommen.
Wie üblich hatte Helena meine Empfindungen instinktiv gespürt. »Es war schön, dass ich Joseph endlich etwas über meine Familie erzählen konnte«, sagte sie leise. »Wir haben über sie gesprochen, bis mir vor Müdigkeit die Augen zugefallen sind. Dann habe ich von ihnen geträumt, bis die Sonne aufging. Von meiner Mutter und ihrer Organisation, von meinem Vater.« Sie schloss einen Moment die Augen. »Und als ich heute Morgen aufgewacht bin, wusste ich gar nicht, wo ich war, so lange war ich im Traum dort, wo ich aufgewachsen bin.«
»Tut mir leid, wenn ich dich mit meinem Bericht aus der Fassung gebracht habe«, entschuldigte ich mich. »Ich bin total unsicher, wie ich den Leuten das nahebringen soll, was ihre
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