Vermiss mein nicht
normalerweise, denn dann haben sie noch ein Leben nach der Arbeit. Das ist das
Leben
, L-E-B-E-N, du kannst es gelegentlich mal im Lexikon nachschlagen. Hmm …« Er seufzte und schwieg einen Moment, als überlegte er, ob er etwas sagen wollte oder lieber nicht. Jack kannte dieses Schweigen genau. »Na gut«, fuhr er schließlich fort, und seine Stimme war auf einmal wieder lauter und sachlicher: »Wir reden bald mal in Ruhe, ja?«
In diesem Moment klopfte jemand heftig gegen die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite, und Jack erschrak so, dass er das Telefon fallen ließ. Als er aufblickte, erkannte er Alans Mutter, die zu ihm hereinspähte. Sofort beugte er sich hinüber und kurbelte das Fenster herunter. »Hallo, Mrs. O’Connor!«
»Wer sind Sie denn?«, fragte die rundliche Frau mit gerunzelter Stirn und streckte neugierig den Kopf durchs Fenster. Ein paar drahtige Haare wuchsen auf ihrem Kinn, und wenn sie redete, lösten sich die falschen Zähne vom Zahnfleisch und bewegten sich schmatzend in ihrem Mund. »Kenn ich Sie?« Prompt landete ein Spucketropfen auf Jacks Lippe.
»Ja, Mrs. O’Connor«, antwortete er laut, aus Rücksicht auf ihre Schwerhörigkeit, und wischte sich die Spucke ab. »Ich bin Jack Ruttle, Donals Bruder.«
»Herrje, der Bruder vom kleinen Donal! Aber was sitzt du da im Auto rum, komm raus und lass dich mal anschauen!«
Damit schlurfte sie auf ihren braunen Samtpantoffeln weg vom Auto, mit dem Kiefer mahlend, sodass die losen dritten Zähne munter weiterschmatzten. Sie sah aus, als hätte sich ihre Garderobe seit den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht mehr verändert. Ihre zwölf Kinder hatte sie praktisch allein großgezogen, da der Vater nur aus einem einzigen Grund auftauchte und danach sofort wieder verschwand. Die Devise »Nichts wird weggeworfen, was noch geflickt werden kann« war immer ein wichtiger Bestandteil des Lebensstils der O’Connors gewesen, denn damit alle etwas anzuziehen hatten, mussten die Textilien mehrmals recycelt werden. Jack erinnerte sich noch gut daran, wie Alan als kleiner Junge einmal mit Donal in weißen Shorts heimgekommen war, die unverkennbar bereits ein Leben als Kopfkissenbezug hinter sich hatten. Donal achtete nicht auf solche Dinge, und er hänselte Alan auch nie wie die anderen Kinder. Alan selbst verprügelte jeden, der ihn auch nur schief ansah, und er beschützte Donal, als wäre er sein Leibwächter. Donals Verschwinden hatte ihn besonders hart getroffen.
»Komm mal her zu mir, du bist ja richtig erwachsen geworden«, rief Mrs. O’Connor, drückte Jack die Hand und zauste ihm die Haare, als wäre er grade eben in die Pubertät gekommen. »Das Ebenbild deines Vaters, möge er in Frieden ruhen«, stellte sie nach eingehender Betrachtung fest und bekreuzigte sich.
»Danke, Mrs. O’Connor, Sie sehen auch sehr gut aus«, log Jack zuvorkommend.
»Ach was.« Mit einer wegwerfenden Geste schlappte sie zu ihrer Wohnung im Erdgeschoss des Wohnblocks zurück. Zwei Schlafzimmer für zwölf Kinder, wie schaffte sie das bloß? Kein Wunder, dass Alan so viel Zeit bei Donal verbracht und nichts dagegen gehabt hatte, wenn ihre Mutter ihn durchfütterte.
»Ist Alan da? Ich wollte kurz mit ihm reden.«
»Nein, er ist nicht hier, weil er nämlich endlich mit diesem Mädel zusammengezogen ist. In ein Haus, nur die beiden! Also, er ist garantiert bloß wegen dem Haus mit ihr zusammen, das kannst du mir glauben. Schicke Häuser haben die heutzutage, die ledigen Mütter, so was gab’s zu meiner Zeit nicht. Na gut, ich war ja streng genommen auch nicht ledig, aber so gut wie, und das war auch besser so«, fuhr sie fort, während sie zur Haustür schlurfte.
Jack lachte. Alan mischte gern bei allem Möglichen mit, aber egal, was er anstellte, er landete immer auf den Füßen, sodass Donal ihn irgendwann »die Katze« getauft hatte. »Ich will Sie nicht stören, Mrs. O’Connor, dann besuch ich Alan eben gleich in seinem Haus, wenn das okay ist.«
»Von wegen, komm erst mal rein und trink ’ne Tasse Tee mit mir«, blaffte sie.
»Ich hab’s leider ziemlich eilig und wollte wirklich nur ganz kurz mit Alan sprechen«, entgegnete er höflich, aber fest.
»Glaubst du, er hat Mist gebaut?«, fragte Mrs. O’Connor besorgt.
»Aber nein, jedenfalls nicht mit mir«, grinste Jack, und Alans Mutter nickte, während sich Erleichterung auf ihrem harten Gesicht breitmachte.
Anscheinend hatte Alan einen Anruf von seiner Mutter erhalten, denn er
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