Vermisst: Thriller (German Edition)
regeln.«
»Sie haben leicht reden. Sie sind doch auch nicht ohne Fallschirm gesprungen.«
Erschöpfung, Hitze und die Aufregung – das alles war zu viel für mich. Ich hatte das Gefühl, in ein tiefes Loch zu stürzen. Schwer atmend rieb ich mir mit den Fingern die Stirn. »Es geht um Rio Sanger.«
»Das war mir klar. Sie ist eine Blutsaugerin.«
»Was meinen Sie damit?«
»Die Menschen kommen zu ihr, um ihre Lust zu befriedigen. Sie wollen nehmen, besitzen, sich in ihrem Verlangen suhlen. Aber am Ende gehören sie ihr mit Leib und Seele. Rio Sanger saugt sie aus.« Ein Schatten – Traurigkeit oder Ekel – legte sich auf sein Gesicht. »Außerhalb dieser Mauern bekommt man so gut wie alles. Rio Sanger wusste das und hat ihr Geschäft eine Zeit lang von diesem Land aus betrieben. Sie war besonders gut darin, Kinder und Frauen als Prostituierte in den Westen zu schmuggeln.«
»Kinder?«, fragte ich.
»Mädchen vom Land. Thailänderinnen, Laotinnen, Burmesinnen. Einige, diejenigen, die für das westliche Auge am attraktivsten waren, schickte sie ins Ausland.« Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Saum seiner Kutte. »Exportiert wie billige Schuhe.«
»Waren diese Mädchen für die USA bestimmt?«
»Einige von ihnen. Meines Wissens ist sie jetzt dort tätig.«
Import-Export. Dafür war die Einwanderungs- und Zollbehörde zuständig. Hatte Rio Boyd Davies benutzt, um ihre Mädchen an den Kontrollen vorbei in die Vereinigten Staaten zu schmuggeln?
Er setzte seine Brille wieder auf. »Rio war sehr geschickt darin, Beweismaterial an Stellen zu verhökern, die ein eigenes Interesse daran hatten. Geheimdienste, organisiertes Verbrechen, rachsüchtige Gegner. Sie lebt vom Hass und hat ihren Sohn damit infiziert. Ohne sie wäre dieser Quell des Leidens schon längst versiegt.« Er sah mich. »Es geht um Blutrache.«
Ich stutzte. »Wieso Blutrache?«
Er drehte sich zu mir um, aber seine Augen nahmen mich gar nicht wahr. »Rio Sanger will sich an Ihrem Vater rächen. Sie will Ihre Familie für etwas bestrafen, das ihrer eigenen Familie angetan wurde.«
Tim North hatte schon so was angedeutet. »Den Tod von Hank Sanger?«
»Die Blutrache verlangt, für vergangenes Unrecht jemanden aus der Familie des Feindes zu töten. Dabei kommt es nicht darauf an, wer es ist. Die Fehde währt ewig. Es geht nur darum, das Rad der Rache in Gang zu halten.«
»Das heißt, die Sangers werden nicht aufhören.«
»Nein.«
Er setzte sich wieder in Bewegung. Mir dröhnte der Kopf. Rio und Christian Sanger hatten bereits meinen Vater in ihrer Gewalt. Was wollten sie noch? Was konnte schlimmer sein?
»Jakarta Rivera«, sagte ich. »Haben Sie mit ihr und meinem Vater zusammengearbeitet?«
»Wissen Sie, wer sie ist?«, fragte er.
Ich runzelte die Stirn. »Ja. Ihretwegen bin ich hier. Ich kann nur nicht verstehen, warum sie mich in diese Welt des Zwielichts gezerrt hat, in der sie lebt.«
»Sie wissen nie, ob sie Ihnen Schutz bietet oder eine Bedrohung darstellt.«
»Genau.«
»Jax Rivera versteht sich darauf, ein doppeltes Spiel zu spielen. Aber die Motive der meisten Menschen sind eher simpel. Wir werden von einem tiefen, primitiven Verlangen getrieben.« Wir bogen um eine Ecke auf einen Platz mit Chedis und Schreinen, zwischen denen sich die Touristen drängten. Er blieb stehen. »Warten Sie am Tempel, man wird Ihnen das Gesuchte bringen.«
»Danke.«
Er reichte mir das Medaillon zurück. »Meine Frage galt übrigens nicht Jakarta Rivera.« Er deutete mit dem Kopf auf das Madonnenbild. »Wissen Sie, wer diese Frau ist?«
»Die Jungfrau Maria.«
»Diese Darstellung ist als Maria Auxiliadora bekannt, die hilfreiche Mutter Gottes.«
»Klingt, als hätte ich sie gern auf meiner Seite.«
»Wohl kaum. In Kolumbien nennt man sie die Schutzpatronin der Mörder.« Sein angedeutetes Lächeln zeigte keine Spur von Zynismus oder Ironie.
15. Kapitel
Oben an der Tempeltreppe drehte ich mich um und blickte zurück. Der alte Mönch war schon weit weg. Für ihn ging es zurück in die Abgeschiedenheit. Ich steuerte auf die Tür zu, zog meine Schuhe wieder aus und stellte sie auf ein Regal.
»Da bist du ja.«
Als ich aufschaute, stapfte Terry hinter mir die Treppe hoch. Ich hob abwehrend die Hände.
»Sei mir nicht böse, aber ich brauche ein bisschen Abstand.«
»Ich bin nicht böse.«
»Was willst du eigentlich von mir?«
Sie seufzte. »Also gut. Russell hat mich hängen lassen. Ich dachte nur … wir
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