Vermisst: Thriller (German Edition)
voran.
Der Tempel stand von einem Kreuzgang umgeben auf einer grünen Rasenfläche. Hinter den hohen Wänden herrschte erquickende Stille. Ich stellte meine Wanderschuhe zu den zahlreichen Sandalen und Stiefeln vor der Tür, bevor ich den Tempel betrat.
Nie zuvor war ich in einem buddhistischen Tempel gewesen. Es gab keine Sitzbänke, keine Musik. Säulen mit kunstvollen Mosaikeinlagen verloren sich im dunklen Deckengewölbe. Am anderen Ende des Raumes stand ein mächtiger Altar mit einem goldenen Buddha, dem die Gläubigen Opfergaben wie Fotos, Blumen oder Speisen gebracht hatten. Auf einem Teppich saßen etwa zwanzig Mönche und beteten.
Terry tauchte an meiner Seite auf. »Du kannst knien oder sitzen, aber achte darauf, dass du nicht mit den Füßen auf den Buddha zeigst. Das gilt als extrem unhöflich.«
Wir knieten nieder. Der Tempel war ruhig und angenehm kühl, aber ich starrte mit großer Sorge auf die Mönche. In meinem Kopf tickte die Uhr.
Fünf Minuten, zehn – schließlich erhoben sich die Mönche und wandten sich zum Gehen. Forschend blickte ich in ihre jungen Gesichter und hoffte auf Erkenntnis. Dann entdeckte ich ihn.
Er trug eine dicke Brille, und die Stoppeln auf seinem rasierten Schädel schimmerten grau. Der Körper unter der safrangelben Robe war muskulös und stämmig. Von seinem Nasenrücken zog sich eine Narbe über eine Wange bis zu seinem Ohr.
»Ich muss weg«, sagte ich leise zu Terry.
Ich rappelte mich auf und trat auf ihn zu. Grüßend legte ich die Hände vor dem Gesicht zusammen, wie ich es die Einheimischen hatte tun sehen. »Sawadii kap.«
Er erwiderte meinen Gruß.
»Ajahn Niram?«
Sein Blick war der eines alten, zornigen Mannes. Die Narbe war wulstig, als wäre die Wunde damals nur notdürftig versorgt worden. Er schien auf irgendetwas zu warten. Ich nahm Jax’ Medaillon aus der Tasche und gab es ihm. Er warf einen Blick auf die Madonna, schloss die Hand um den Anhänger und ging nach draußen.
Ich folgte ihm. Nachdem ich in aller Eile meine Wanderschuhe eingesammelt hatte, lief ich ihm nach. Im hellen Licht leuchtete sein Gewand wie ein Sonnenuntergang.
»Haben Sie auch einen Namen?«, fragte er.
»Evan Delaney.«
Sein Blick schweifte in die Ferne. »Sie erinnern mich an Ihren Vater.«
»Sie kennen meinen Vater?«
»Ich kannte ihn. Und ich weiß, was Sie wollen.«
»Haben Sie es?«
Er grub ein Handy aus den Falten seines Gewandes. Nach ein paar Sätzen in rasend schnellem Thai, klappte er das Gerät zu. »Fünf Minuten.«
Er wirkte merkwürdig angespannt. Vermutlich hütete er wie ich ein gefährliches Geheimnis für Jakarta Rivera und war froh, es loszuwerden.
»Woher kennen Sie meinen Vater?«
Er drehte und wendete das Medaillon auf seiner Handfläche. »Aus einer anderen Zeit. Ich habe mich geistig und körperlich so verändert, dass es mir vorkommt wie ein früheres Leben.«
Als er mit dem Medaillon spielte, bemerkte ich die Tätowierung auf seinem Unterarm: ein geöffneter Fallschirm mit Schwingen.
»Sie waren Fallschirmjäger?«
»Ja. Das hier stammt aus meiner Ausbildungszeit in Fort Benning.«
Ich betrachtete ihn plötzlich mit anderen Augen. Der Mann war bei der US Army Airborne gewesen.
»Überrascht?«, fragte er.
»Nein. Hinter den feindlichen Linien waren Sie vermutlich ebenso wenig fassbar wie hinter Klostermauern.«
Der Mund unter der Narbe verzog sich zu einem Lächeln. »Vom Gesicht her ähneln Sie ihm nicht, aber Ihr Gang …« Er blickte mich prüfend an. »Oder sind es die Augen? Die Delaneys sind wie zielsuchende Raketen. Wenn sie erst mal unterwegs sind, hält sie keiner mehr auf.«
»Mein Vater steckt in Schwierigkeiten«, sagte ich.
Er rückte sein Gewand zurecht. »Phil besaß ein ausgeprägtes Pflichtgefühl, aber er ließ sich von seinem Verlangen treiben. Und Verlangen ist die Ursache alles Leidens.«
Karma für Dummies. Ich steckte die Hände in die Taschen und versuchte, buddhistische Geduld zu demonstrieren. Sich von jeglichem Verlangen zu befreien, war der Weg ins Nirwana. Nicht ganz einfach, wenn der Countdown läuft.
»Ihr Vater ist seinen eigenen Weg gegangen, auf dem Sie ihm jetzt folgen. Vergessen Sie dabei nicht, dass das Leben wie eine schmale Brücke ist. Am wichtigsten ist es, keine Angst zu haben.«
»Gehört das zur buddhistischen Lehre?«
»Nein, das ist jüdisch. Ein Ausspruch von Rabbi Nachmann. Lassen Sie Ihre Angst los. Überqueren Sie die Brücke. Dann wird sich auch die Sache mit Ihrem Vater
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