Vermisst: Thriller (German Edition)
Nachtclub drang grellblaues Licht, das Jax’ braunes Gesicht wie fahle Fischhaut wirken ließ. Im Augenblick sah man ihr jeden Tag ihrer fünfundvierzig Jahre an.
Sie sagte kein Wort. Seit wir das Hotel verlassen hatten, war sie in eine Art Trance versunken. Vermutlich dachte sie daran, wie sie mit Rio Sanger abrechnen würde.
Wir bogen in eine Gasse ein, die von Essensgerüchen erfüllt war. Aus den Küchenfenstern schallte Gelächter. Plötzlich stieg mir ein widerlicher Gestank in die Nase.
»Was riecht denn hier so merkwürdig?«, fragte ich.
»Klebstoff.«
Zwischen den Gebäuden hockten Männer mit Werkzeugen unter nackten Glühbirnen auf dem Boden. Jax warf ihnen einen beiläufigen Blick zu.
»Die kleben Etiketten auf die Gucci-Taschen, die sie gerade gefälscht haben. Keine Sorge, das Zeug, das ich dir besorge, ist von deutlich besserer Qualität.«
»Und was wäre das?«
»Ein neuer Pass.«
Nachdem wir die Passfotos bereits aufgenommen hatten, war ich nicht weiter überrascht. Wir arbeiteten an meiner neuen Identität.
Zuerst hatten wir auf dem Markt eingekauft. Binnen fünfundvierzig Minuten hatte Jax eine völlig neue Garderobe für mich in Auftrag gegeben. Dank einer energischen Schneiderin kannte ich meine Beinlänge nun auf den Millimeter genau. Dann schleppte Jax mich zum Friseur. Einundfünfzig Minuten: Haare färben, schneiden, Kopfhautmassage, Mousse und Fönen. Schon hatte ich mich in eine Brünette verwandelt. Punkrock lebte – zumindest auf meinem Kopf. Schließlich wurde ich mit farbigen Kontaktlinsen und einer Pseudopromi-Sonnenbrille ausgestattet. Das Make-up, das Jax mir pfundweise ins Gesicht klatschte, kauften wir bei einem Drogeriemarkt.
Im Licht der Straßenlampen betrachtete ich das Ergebnis auf den Passfotos. Dank Kajal und Schlafmangel blickte ich ziemlich hohläugig in die Welt. »Werd ich damit durchkommen?«
»Das liegt an dir. Gut ausgebildete Sicherheitskräfte erkennen, wenn Leute ihren Gang oder ihre Stimme verstellen, aber ein bestimmtes Image kann man vortäuschen.« Wir traten auf einen breiten Boulevard hinaus. »Das A und O ist, dass du deine Legende beherrscht. Wir werden sie einfach halten, aber du musst sie in- und auswendig kennen.«
Sie trat an den Straßenrand und hielt Ausschau nach einem Taxi.
»Jax, es wird Zeit, dass du redest. Es gibt Dinge, die ich wissen muss.«
»Müssen ist wohl das falsche Wort. Du willst was wissen.«
»Warum hast du gesagt, dass Tim und mein Vater einander hassen?«
»Nicht relevant.«
»Weil mein Vater an der Operation beteiligt war, bei der du von Hank Sanger angeschossen wurdest?«
»Nicht relevant.«
»Wusstest du, dass Sanger mit Rio verheiratet war, als du mit ihm ins Bett gegangen bist?«
»Wilde Ehe.« Sie stoppte ein Taxi. »Steig ein.«
Ich wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte. »Warum hast du von verlorenen Kindern gesprochen?«
Sie beugte sich zum Fahrer vor und nannte ihm eine Adresse. Wir reihten uns in den Verkehr ein.
»Was haben die verlorenen Kinder mit Rio Sangers Blutrache zu tun?«, fragte ich.
»Dein Vater und ich haben Rio so manches Mädchen weggenommen, sie der Polizei übergeben oder nach Hause geschickt. Für sie war das Diebstahl.«
»Das ist doch kein Grund für eine Vendetta.«
»Am besten erzähle ich dir von Rio. Ihr Vater war Amerikaner, die Mutter Asiatin. Sie wuchs in Bangkok auf, wo sie sich schon als Teenager prostituierte. Dort lernte sie auch Hank kennen. Mit achtzehn brachte sie ein Baby zur Welt, ihren geliebten Christian.« Jax starrte auf die Lichter der Stadt, die an uns vorüberflogen. »Sie suchte sich einen reichen Lover, der sie aus Asien rausholte. Immer wieder fand sie Männer, die ihr Reisen nach Europa und Amerika finanzierten. Trotzdem kehrte sie stets zu Hank zurück. Deswegen hatte sie den Club in Medellin. Sie war Hank dorthin gefolgt. Seinetwegen ging sie auch wieder zurück nach Bangkok.«
»Ich habe gesehen, wie Hank auf dich geschossen hat.«
»Weil ich ihm den Rücken zugewandt hatte. Tu das nie.«
Ich schwieg für einen Augenblick. »Was hattest du Hank über Christian zu sagen? Was stimmte mit dem Jungen nicht?«
»Ich wollte meine Haut retten. Da hätte ich alles behauptet.«
»Und was willst du an dem Riverbend-Dossier ändern?«
»Wie geht’s dir mit der Schriftstellerei?«
Ich runzelte die Stirn. »Ich denke nicht dran, deine Memoiren zu schreiben. Nie im Leben.«
»Ich rede von deinem Roman. Spielt deine Guerillakämpferin wieder
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