Verneig dich vor dem Tod
milderen Morgenluft tauten.
Eadulf war ebenfalls abgestiegen und trat hinter sie.
»Was ist?« fragte er.
Sie zeigte auf den Boden.
»Hier hat jemand gestanden, sowohl zu Fuß als auch zu Pferde. Ein Pferd – hier siehst du die Hufabdrücke. Eine Person. Kleine Fußspuren. Was verrät uns das?«
»Ein kleiner Mann oder …«
»Eine Frau. Sie standen hier dicht am Rande des Sumpfes. Sie wußten genau, was sie taten. Ein falscher Schritt, und eine Leiche mehr wäre im Sumpf verrottet.«
Mul wartete geduldig und hielt ihre Tiere am Zügel.
»Ich verstehe nichts. Wonach sucht ihr?« wollte er wissen.
»Ich hab’s gefunden«, antwortete Fidelma befriedigt und wandte sich zu ihm um. Dann sagte sie zu Eadulf: »Dies ist das Geheimnis des sogenannten Geists, der gestern abend erschien. Irgend jemand ist offensichtlich zu Pferde hierher gelangt. Das war die Gestalt, die wir alle sahen.«
Eadulf schaute über das Moor zu dem Hügel, auf dem sie sich am vorigen Abend versteckt und Abt Cild beobachtet hatten.
»Aber wie konnte sie in diesem schimmernden Licht erscheinen?Was ist mit dem Feuerdrachen? Das ist doch schwierig zu machen.«
Fidelma schnüffelte in der Luft. »Riechst du was?«
Eadulf schnupperte vorsichtig und spürte einen widerlichen Gestank. Er hatte oft genug mit Toten zu tun gehabt und erkannte ihn sofort.
»Das ist der Gasgeruch von verwesenden Leichen«, gestand er.
Fidelma sah Mul an. »Was meinst du, Mul? Hat er recht?« Der Bauer schien verwirrt von ihren Reden.
»Es gibt hier genügend Stoff für den Feuerdrachen«, sagte er. »Und eure scharfen Augen hätten auch schon die Flamme erkennen können. Sehr ihr?«
Er zeigte nach vorn.
Ein Stück entfernt sahen sie ein eigenartiges Schimmern vor dem Hintergrund des weißen Schnees, wie aufsteigende Hitzewellen. Genau das war es auch.
»Wenn ihr dort die Hand hineinhalten könntet«, bemerkte Mul, »würdet ihr euch verbrennen. Das ist eine Flamme, aber sie ist so schwach, daß ihr sie erst erkennen könnt, wenn es Nacht wird, und dann seht ihr das unheimliche blaue Licht, das die Leute Leichenfeuer nennen.«
Fidelma atmete tief aus.
»Also dieses Licht brennt bei Tage und bei Nacht, aber wir sehen es erst richtig, wenn es dunkel genug ist, um den Kontrast zu bilden?«
»Genauso ist es.«
Eadulf stand auf und blickte sich um, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Ich verstehe deine Überlegungen, Fidelma. Aber eine Erklärung steht noch aus.«
»Nämlich welche?« fragte Fidelma.
»Gestern abend hast du mir gesagt, du meintest, die Gestalt, die wir bemerkten, sei keine Geistererscheinung, sondern eine wirkliche Frau. Jetzt hast du bewiesen, daß der Feuerdrache einfach eine Naturerscheinung ist. Na schön. Aber wie erklärst du es, daß wir nicht nur den Feuerdrachen sahen, sondern daß auch die Umrisse der Frau glühten? Daß sie – und nicht nur der Feuerdrache – einen solchen geisterhaften Anblick bot? Das war es nämlich, was Abt Cild und seinen Männern so einen Schrecken einjagte, und nichts anderes.«
Auch Fidelma hatte sich erhoben und ging zurück zu ihrem Pony. Sie streichelte ihm das Maul, bevor sie antwortete.
»Vor ein paar Jahren, Eadulf, es war auch mitten im Winter wie jetzt, war ich auf meinem Heimweg nach Cashel. Ich kam über die tief verschneiten Berge und mußte eine Nacht in einem Gasthaus verbringen. Der Gastwirt und seine Frau glaubten, sie würden von einem Geist verfolgt. Sie hatten etwas Ähnliches gesehen. Es stellte sich heraus, daß jemand versuchte, ihnen Angst einzujagen. Auch dieser Mensch konnte sich mit einer seltsamen glühenden Ausstrahlung umgeben.«
»Wie denn?« fragte Eadulf. »Wie macht man so etwas?« »In meinem Land gibt es einen gelben, dem Ton ähnlichen Stoff, von dem ein merkwürdiges Leuchten ausgeht. Er wird von Höhlenwänden abgekratzt. Bei uns heißt er
mearnáil
. Er glüht in der Dunkelheit. Ich weiß nicht, wie man ihn hier nennt. Aber ich glaube, die Frau, die hierherkam, hatte ihn auf ihre Kleidung gestrichen, und da die flackernde Flamme des Feuerdrachens vor ihr brannte,wurde ihr Licht von dem Ton, mit dem sie sich beschmiert hatte, zurückgeworfen, und dadurch erblickten wir das geisterhafte Bild.«
Eadulf spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff.
»Du meinst, daß Cild ›von Geistern verfolgt‹ wird, dient irgendeiner Verschwörung?«
»Das denke ich.«
»Und Botulf wußte davon? Er hatte herausgefunden, was dahinter steckte? Das hat zu seinem Tode
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