Verneig dich vor dem Tod
der Apotheker damit meinte. Plötzlich leuchteten seine Augen auf.
»Dann glaubst du auch nicht an diese Geistererscheinung?«
Bruder Higbald schüttelte den Kopf. Sein Lächeln wurde eher noch breiter.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Geist oder ein Phantom durch unsere dunklen Gänge schwebt. Ich glaube, der junge Redwald bildete sich etwas ein. Ich muß dich allerdings darauf hinweisen, daß du es warst, der als erster das Bild einer Frau beschrieb, die nach Aussage des armen Bruder Willibrod eine auffallende Ähnlichkeit mit der toten Frau des Abts besaß. Vielleicht hat Redwald dich davon erzählen hören und sich dann mit blühender Phantasie etwas ausgemalt, was er im Schatten erblickt haben will. Weiter nichts.«
Eadulf hielt nachdenkend den Kopf schief.
»Das wäre möglich. Aber ich habe selbst mit Redwald gesprochen, und seine Furcht ist echt.«
»Das kann schon sein. Man bringt es fertig, sich selbst davon zu überzeugen, daß man etwas gesehen hat, obgleich man es nicht gesehen hat. Ein junger Mensch ist leicht zu beeindrucken.«
Eadulf lächelte düster. »Nehmen wir an, es wäre so. Träfe dieselbe Erklärung auf meine Beobachtung der Frau zu?«
Bruder Higbald kicherte. »Ich kenne dich nicht so gut, Bruder, deshalb kann ich dir diese Frage nicht beantworten. Ich weiß nur – wie ich dir heute morgen schon sagte –, daß wir eine kleine Gemeinschaft sind und ich es wissen müßte, wenn sich eine Frau hier aufhielte.«
»Aber würdest du es auch wissen, wenn es ein Schatten wäre, ein Bild aus der Anderen Welt?« erkundigte sich Eadulf.
Bruder Higbald schüttelte entschieden den Kopf. »Du glaubst nicht an solche Sachen, mein Freund, und ich auch nicht.«
»Unglücklicherweise glauben aber dein Abt und viele deiner Brüder daran.«
»Ich weiß, das ist ein Problem. Ich bin übrigens gerade auf dem Weg zu Schwester Fidelma, um zu sehen, wie es ihr geht. Darf ich dich begleiten?«
»Sie hat hohes Fieber«, sagte Eadulf, während sie den Gang entlangschritten.
Bruder Higbald schien das nicht zu beunruhigen.
»Das ist meistens so bei solchen Fieberanfällen. Das Fieber stellt sich ein und muß auf natürlichem Wege wieder fallen, wenn wir auch etwas mit Arzneien nachhelfen können. Gewöhnlich überschreitet das Fieber seinen Höhepunkt in den frühen Morgenstunden. Wir können nichts weiter tun als abwarten.« Higbald schwieg und sahEadulf an. »Wohin bist du denn heute vormittag verschwunden?«
»Ich ritt hinter Abt Cild und seinem Trupp her«, antwortete Eadulf. »Ich habe sie nicht erreicht, aber dafür stieß ich auf den Bruder des Abts.«
Bruder Higbald verhielt den Schritt und starrte Eadulf an.
»Du hast Aldhere getroffen und mit ihm gesprochen?«
Eadulf nickte. »Ein interessanter Mann. Er ist nicht ganz so, wie ihn der Abt beschreibt. Da gibt es anscheinend ein paar unterschwellige Tendenzen. Wenn es nach mir ginge, würde ich die Sache vom Oberhofmeister des Königs untersuchen lassen.«
Bruder Higbald ging weiter und Eadulf mit ihm.
»Ich versuche, Bruderzwist zu vermeiden. Ist dir bekannt, wohin Abt Cilds Anklage gegen Schwester Fidelma führen kann?«
Eadulf nickte grimmig.
»Darf ich dir einen Rat geben?« fragte Bruder Higbald.
Eadulf warf ihm einen forschenden Blick zu. »Einen Rat?« »Sobald das Fieber deiner Gefährtin nachläßt, würde ich an eurer Stelle die Abtei verlassen.«
Eadulf seufzte resigniert. »Ich glaube, genau das hast du mir heute früh schon geraten.«
»Es ist der beste Rat, den ich dir bieten kann«, antwortete Bruder Higbald. »Ich werde dir einen Weg zeigen, auf dem ihr unbemerkt aus der Abtei gelangen könnt; den meisten der Brüder ist er nicht bekannt. Habt ihr Glück, könnt ihr Abt Cilds Zorn mit Leichtigkeit entgehen. Ich für mein Teil möchte nicht unschuldiges Blut an meinen Händen haben.«
Eadulf sah ihn überrascht an.
»Wenn du solche Vorbehalte gegen deinen Abt hast, warum bleibst du dann hier, Bruder Higbald?«
Der Apotheker lachte trocken.
»Wir alle haben unsere Gründe, weshalb wir unser Leben gerade an einem bestimmten Ort verbringen. Ich habe mich für diesen hier entschieden. Meine Gründe haben mit dieser Sache nichts zu tun.«
Eadulf kam plötzlich ein Gedanke.
»Hast du mir nicht heute morgen erzählt, daß Bruder Botulf den Tod von Lady Gélgeis hätte bezeugen können? Ich habe gehört, sie sei eines Abends allein zur Abtei zurückgekehrt und in ein Moorloch, Hob’s Mire, geraten und darin
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