Veronica beschließt zu sterben
begann ein Apparat, der weiter weg
stand, zu summen, und dann erklangen eilige Schritte auf
dem Korridor, und das ruhige, fachmännische Flüstern
schlug um in barschen Befehlston.
Als sie einmal bei Bewußtsein war, fragte eine Krankenschwester sie:
»Wollen Sie denn nichts über ihren Zustand erfahren?«
»Ich kenne meinen Zustand«, antwortete Veronika. »Was
mit meinem Körper passiert, ist uninteressant, wichtig ist
meine Seele.«
Die Krankenschwester versuchte ein Gespräch anzufangen, doch Veronika tat so, als schliefe sie.
Als sie die Augen öffnete, bemerkte sie zum ersten Mal,
daß sie verlegt worden war. Sie befand sich jetzt in einem
großen Krankensaal. Die Infusionsnadel steckte noch immer
in ihrem Arm, doch die anderen Kanülen, Katheter und
Drähte waren verschwunden.
Ein hochgewachsener Arzt im traditionellen weißen Kittel,
der zu seinem schwarzgefärbten Haar und Schnurrbart einen
harten Kontrast bildete, stand vor ihrem Bett, neben sich
einen Assistenzarzt mit Klemmbrett, der sich Notizen
machte.
»Wie lange bin ich schon hier?« fragte sie und bemerkte,
daß ihr das Sprechen schwerfiel und sie fast lallte.
»Nach fünf Tagen Intensivstation nun schon seit zwei
Wochen in diesem Raum«, antwortete der Arzt. »Und Sie
können von Glück sagen, daß Sie noch hier sind.«
Der Assistenzarzt sah überrascht hoch, als widerspreche
der letzte Satz den Tatsachen. Veronika bemerkte seine Reaktion sofort, und ihre Sinne schärften sich augenblicklich.
War sie etwa schon länger hier? War sie noch in Gefahr? Sie
begann, jede Geste, jede Bewegung der beiden genau zu beobachten. Sie wußte, daß es sinnlos war, ihnen Fragen zu
stellen, sie würden niemals die Wahrheit sagen. Doch wenn
sie es geschickt anstellte, konnte sie trotzdem herausfinden,
was los war.
»Sagen Sie mir Ihren Namen, Ihre Adresse, Ihren Familienstand und Ihr Geburtsdatum«, fuhr der Arzt fort.
Veronika wußte ihren Namen, ihren Familienstand, doch
sie stellte fest, daß es in ihrer Erinnerung weiße Flecken
gab: Sie konnte sich nicht genau an ihre Adresse erinnern.
Der Arzt leuchtete ihr mit einer Lampe in die Augen und
untersuchte sie lange schweigend, sein Assistenzarzt tat es
ihm nach. Die beiden tauschten Blicke, die Veronika nicht
deuten konnte.
»Sie haben der Nachtschwester gesagt, wir könnten Ihre
Seele nicht sehen?« fragte der Assistenzarzt.
Veronika konnte sich nicht daran erinnern. Sie wußte
kaum mehr, wer sie war und was sie hier machte.
»Sie haben die ganze Zeit unter Schlaf- und Beruhigungsmitteln gestanden, das mag Ihr Gedächtnis beeinträchtigen.
Versuchen Sie bitte, auf all unsere Fragen zu antworten.«
Und die Ärzte begannen mit einer absurden Befragung.
Sie wollten wissen, welches die wichtigsten Zeitungen in
Ljubljana seien, wie der Dichter hieß, dessen Statue auf dem
Hauptplatz stand (als könnte sie Preseren vergessen, wo
doch jeder Slowene sein Bild tief im Herzen trug!), die
Haarfarbe ihrer Mutter, die Namen ihrer Arbeitskollegen,
die am häufigsten ausgeliehenen Bücher der Bibliothek.
Anfangs überlegte Veronika, ob sie überhaupt antworten
sollte, denn ihr Gedächtnis war noch ziemlich durcheinander.
Doch im Laufe der Befragung rekonstruierte sie, was sie
vergessen hatte. Irgendwann ging ihr auf, daß sie sich jetzt
in einer psychiatrischen Anstalt befand und Verrückte
eigentlich nicht zusammenhängend reden mußten. Doch zu
ihrem eigenen Besten und um die Ärzte in der Nähe zu halten,
damit sie etwas über ihren Zustand erfahren konnte, begann
sie ihren Verstand anzustrengen. Und indem sie Na-
men und Tatsachen zitierte, erlangte sie nicht nur ihr Erinnerungsvermögen nach und nach zurück, sondern auch ihre
Identität, ihre Absichten und ihre Gedankenwelt. Ihr Selbstmord, der noch am Morgen unter mehreren Schichten von
Beruhigungsmitteln verschüttet gewesen war, kam wieder
an die Oberfläche.
»Gut«, sagte der Arzt am Ende der Befragung.
»Wie lange muß ich noch hierbleiben?«
Der Assistent schaute zu Boden, und sie spürte, wie alles
stillstand, als beginne mit der Antwort auf diese Frage ein
neues, unabänderliches Kapitel ihrer Lebensgeschichte.
»Du kannst es ihr sagen«, meinte der Arzt. »Viele andere
Patienten haben schon Gerüchte gehört, und sie wird es am
Ende sowieso erfahren. Hier gibt es keine Geheimnisse.«
»Nun, Sie haben Ihr Schicksal selbst bestimmt«, seufzte
der junge Mann und maß seine Worte. »Und jetzt müssen
Sie auch die Konsequenzen
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