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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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sein?«
»Fragen Sie das morgen den Arzt. Und jetzt schlafen Sie,
sonst muß ich Ihnen, so leid es mir tut, ein Beruhigungsmittel geben.«
Veronika gehorchte. Auf dem Weg zurück ins Bett hörte
sie jemanden in einem der anderen Betten flüstern:
»Weißt du nicht, was ein Verrückter ist?«
Zuerst blieb Veronika die Antwort schuldig. Freundschaften schließen, soziale Bindungen schaffen, Gleichgesinnte für einen Massenaufstand finden - daran lag ihr
nichts. Wenn eine Flucht unmöglich war, dann würde sie es
irgendwie schaffen, sich so schnell wie möglich an Ort und
Stelle umzubringen.
Doch die Frau wiederholte die Frage, die Veronika der
Wärterin gestellt hatte.
»Weißt du nicht, was ein Verrückter ist?«
»Wer bist du?«
»Ich heiße Zedka. Geh zu deinem Bett. Wenn die Wärterin
glaubt, daß du in deinem Bett liegst, dann kriech hierher zu
mir.«
Veronika kehrte in ihr Bett zurück, wartete, bis die Wärterin sich wieder in ihr Buch vertieft hatte. Was hieß hier
>verrücktZusammenhängen, mit ganz verschiedenen Bedeutungen
gebraucht. So sagten zum Beispiel bestimmte Sportler, daß
sie ganz verrückt darauf seien, Rekorde zu brechen. Oder
man behauptete, Künstler seien verrückt, weil sie ein unsicheres, >anderes< Leben führten als die >Normalen<. Andererseits hatte Veronika in den Straßen Ljublanas schon
häufig im Winter dürftig gekleidete Menschen gesehen, die
das Ende der Welt predigten und Einkaufswagen voller Tüten
und Lumpen vor sich her schoben.
Sie war jetzt hellwach. Dem Arzt zufolge hatte sie eine
Woche lang geschlafen, zu viel für jemanden, der ein Leben
ohne große Emotionen, aber mit festen Ruhezeiten gewohnt
war. Was hieß hier >verrücktVeronika kauerte sich auf den Boden, zog die Infusionsnadel aus dem Arm und schlich zu Zedka. Ihr drehte sich
der Magen um, aber sie achtete nicht weiter darauf. Sie
wußte nicht, ob die Übelkeit von ihrem geschwächten Herzen
oder von der Anstrengung herrührte.
»Ich weiß nicht, was hier >verrückt< heißt«, flüsterte Veronika. »Aber ich bin es nicht. Ich bin eine gescheiterte
Selbstmörderin.«
»Verrückt ist, wer in seiner eigenen Welt lebt. Wie die
Schizophrenen, die Psychopathen, die Manischen. Oder
besser gesagt, Menschen, die anders sind.«
»Wie du?«
»Du wirst sicher«, fuhr Zedka fort, indem sie so tat, als
hätte sie die Bemerkung nicht gehört, »von Einstein gehört
haben, der sagte, es gebe keine Zeit und keinen Raum, sondern nur die Verbindung der beiden. Oder von Kolumbus,
der behauptete, daß auf der anderen Seite des Meeres kein
Abgrund liege, sondern ein Kontinent. Oder von Edmond
Hillary, der behauptete, Menschen könnten auf den Gipfel
des Mount Everest gelangen. Oder von den Beatles, deren
Musik und die Art sich zu kleiden nicht in ihre Zeit gehörten.
Sie alle und Tausende andere haben in ihrer eigenen Welt
gelebt.«
>Was diese Schwachsinnige da sagt, leuchtet total ein<,
dachte Veronika und erinnerte sich an die Geschichten, die
ihre Mutter über Heilige erzählt hatte, die behaupteten, mit
Jesus oder der Jungfrau Maria gesprochen zu haben. Lebten
sie in einer anderen Welt?
»Ich habe einmal eine Frau in einem ausgeschnittenen
roten Kleid bei minus fünf Grad Celsius mit glasigen Augen
durch Ljubljana gehen sehen. Ich glaubte, sie sei betrunken,
und wollte ihr helfen, doch sie hat meine Jacke abgelehnt.
Vielleicht war in ihrer Welt Sommer. Vielleicht fieberte ihr
Körper einem Liebsten entgegen. Auch wenn diese Person
nur in ihrem Delirium existierte, hat sie doch ein Recht zu
leben und zu sterben, wie sie will, findest du nicht?«
Veronika wußte nicht, was sie sagen sollte, doch die
Worte dieser Verrückten machten Sinn. Vielleicht war sie ja
selbst die Frau gewesen, die halbnackt durch die Straßen
von Ljubljana gewandert war.
»Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte Zedka.
»Ein mächtiger Zauberer, der ein Königreich zerstören
wollte, schüttete einen Zaubertrank in den Brunnen, aus dem
alle Einwohner tranken. Wer von diesem Wasser trank, würde
verrückt werden.
Am folgenden Morgen trank die ganze Bevölkerung davon, und alle wurden verrückt außer dem König, der einen
eigenen Brunnen für sich und seine Familie besaß, zu dem
der Zauberer keinen Zugang hatte. Besorgt versuchte er die
Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen, indem er eine
Reihe von Sicherheits- und Gesundheitsmaßnahmen erließ.
Doch die Polizisten

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