Veronica beschließt zu sterben
tragen: Während des durch die
Betäubungsmittel hervorgerufenen Komas wurde ihr Herz
unwiderruflich geschädigt. Es hat eine Nekrose an der
Herzklappe -«
»Machen Sie nicht viel Worte!« sagte der Arzt. »Kommen Sie gleich zum Wesentlichen!«
»Ihr Herz wurde unwiderruflich geschädigt. Und wird
bald aufhören zu schlagen.«
»Was bedeutet das?« fragte sie erschrocken.
»Die Tatsache, daß das Herz zu schlagen aufhört, bedeutet
nur eines: den physischen Tod. Ich weiß nicht, was Ihre
Religion ist, aber -«
»Und wie lange dauert es, bis mein Herz stillsteht?«
»Fünf Tage, höchstens eine Woche.«
Veronika merkte, daß der junge Mann, der sich so professionell und besorgt gab, sich insgeheim diebisch freute,
ihr diesen Befund zu sagen - als verdiente sie die Strafe und
müßte künftig ändern als warnendes Beispiel dienen.
Im Laufe ihres Lebens hatte Veronika begriffen, daß es
unendlich viele Leute gab, die von den Schicksalsschlägen
ihrer Mitmenschen in einem Ton sprachen, als ginge es
ihnen darum, zu helfen. Aber in Wahrheit weideten sie sich
am Leid der anderen, weil es sie glauben machte, sie selbst
seien glücklich und das Leben habe es gut mit ihnen gemeint. Veronika konnte diese Sorte Menschen nicht ausstehen.
Der junge Mann sollte keine Gelegenheit bekommen, auf
ihre Kosten seine eigenen Frustrationen zu verdrängen.
Sie schaute ihn direkt an und lächelte.
»Dann habe ich also nicht versagt.«
»Nein«, war die Antwort. Doch seine Freude am Überbringen von Hiobsbotschaften war verflogen.
In der Nacht bekam sie jedoch Angst. Ein schneller Tablettentod war eines, etwas anderes war es, fünf Tage, eine Woche
lang auf den Tod zu warten, nachdem man schon alles
gelebt hatte, was möglich war.
Sie hatte ihr Leben damit verbracht, ständig auf etwas zu
warten: Darauf, daß der Vater von der Arbeit kam, auf den
Brief des Liebsten, der immer nicht kam, auf die Prüfungen
am Jahresende, auf die Bahn, auf den Bus, auf einen Anruf,
auf den ersten Ferientag, auf den letzten Ferientag. Jetzt
mußte sie auf den Tod warten, für dessen Kommen der Termin schon abgemacht war.
>Das konnte nur mir passieren. Normalerweise sterben
die Leute genau dann, wenn sie es nicht erwarten.<
Sie mußte hier raus, sich neue Tabletten besorgen. Sollte
ihr das nicht gelingen und die einzige Lösung sein, sich in
Ljubljana von einem Gebäude zu stürzen, dann würde sie es
tun. Sie hatte versucht, ihren Eltern zusätzliches Leid zu
ersparen, doch jetzt gab es keinen anderen Ausweg.
Sie blickte um sich. Alle Betten waren belegt. Die Leute
schliefen, einige schnarchten heftig. Die Fenster waren vergittert. Ganz vorn im Schlafsaal brannte ein kleines Licht,
das merkwürdige Schatten warf und dafür sorgte, daß die
Patienten ständig überwacht werden konnten. Beim Licht
saß eine Frau und las in einem Buch.
>Diese Krankenschwestern müssen sehr gebildet sein. Die
lesen ununterbrochen.<
Veronika lag am weitesten von der Tür entfernt. Zwischen ihr und der Frau standen an die zwanzig Betten.
Mühsam stieg sie aus dem Bett, weil sie dem Arzt zufolge
fast drei Wochen durchgehend im Bett gelegen hatte. Die
Krankenschwester hob den Blick und sah das Mädchen mit
ihrem Infusionsständer auf sich zukommen.
»Ich möchte ins Bad«, flüsterte sie, weil sie fürchtete, die
anderen verrückten Frauen zu wecken.
Die Frau wies mit einer nachlässigen Geste auf die Tür.
Veronikas Verstand arbeitete fieberhaft, suchte überall nach
einem Ausweg, einer wie auch immer gearteten Lücke, die
ihr ermöglichte, diesen Ort zu verlassen. >Es muß schnell
gehen, solange sie noch glauben, ich sei schwach, unfähig zu
reagieren.<
Sorgfältig prüfte sie die Umgebung. Das Bad war ein türloser Kubus. Wenn sie hier rauskommen wollte, müßte sie
die Wärterin packen und überwältigen, um an den Schlüssel
heranzukommen. Doch dazu war sie zu schwach.
»Ist das hier ein Gefängnis?« fragte sie die Krankenschwester, die ihr Buch hingelegt hatte und sie jetzt in den
Saal zurückbegleitete.
»Nein, eine psychiatrische Anstalt.«
»Ich bin nicht verrückt.«
Die Frau lachte.
»Das sagen hier alle.«
»Also gut. Dann bin ich eben verrückt. Könnten Sie mir
vielleicht sagen, was es heißt, verrückt zu sein?«
Die Frau sagte, Veronika dürfe nicht zu lange auf sein,
und wollte sie ins Bett zurückstecken. Doch Veronika ließ
sich nicht abwimmeln und fragte erneut:
»Könnten Sie mir vielleicht sagen, was es heißt, verrückt
zu
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