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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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daß nur am
Hauptportal zwei Wachen standen, die bei allen, die herein
oder hinaus wollten, die Ausweise kontrollierten.
Langsam gewann sie die Orientierung zurück. Um ihr
Gedächtnis zu trainieren, versuchte sie sich an kleine Dinge
zu erinnern - wie zum Beispiel den Ort, an dem sie ihren
Zimmerschlüssel immer versteckte, wo sie ihre letzte CD gelassen hatte, welches das letzte Buch war, das jemand in der
Bibliothek bei ihr ausgeliehen hatte.
»Hallo, ich bin Zedka«, sagte eine Frau, indem sie näher
kam.
In der Nacht hatte sie ihr Gesicht nicht sehen können,
weil sie während der ganzen Unterhaltung neben dem Bett
gekauert war. Sie mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein
und schien vollkommen normal.
»Ich hoffe, die Spritze hat dir nicht allzusehr zu schaffen
gemacht. Mit der Zeit gewöhnt sich der Körper daran, und
die Beruhigungsmittel wirken nicht mehr so stark.«
»Mir geht es gut.«
»Unsere Unterhaltung gestern nacht... Das, worum du
mich gebeten hast, erinnerst du dich?«
»Ja, genau.«
Zedka nahm sie am Arm, und die beiden gingen gemeinsam
zwischen den vielen kahlen Bäumen im Hof spazieren.
Hinter den Mauern konnte man die Berge sehen, deren
Gipfel in den Wolken verschwanden.
»Es ist kalt, doch es ist ein schöner Morgen«, sagte
Zedka. »Merkwürdig, aber meine Depression ist nie an
Tagen wie diesem gekommen, wenn der Himmel bewölkt
und es grau und kalt war. Ich hatte dann immer das Gefühl,
mit der Natur im Einklang zu sein, daß sie meine Seele widerspiegelte. Wenn aber die Sonne herauskam, die Kinder
wieder auf der Straße spielten und alle sich über den schönen
Tag freuten, fühlte ich mich hundeelend und kam mir
inmitten dieses Überschwangs fehl am Platz und ungerecht
behandelt vor.«
Vorsichtig entzog sich Veronika dem Arm der Frau. Ihr
war körperlicher Kontakt zuwider.
»Du hast den Satz nicht beendet. Du hattest etwas über
meine Bitte gesagt.«
»Hier drinnen gibt es eine Gruppe. Es sind Männer und
Frauen, die eigentlich schon herauskommen, zu Hause leben
könnten, aber nicht gehen wollen. Gründe dafür gibt es viele:
Villete ist lange nicht so schlecht wie sein Ruf, auch wenn es
beileibe kein Fünfsternehotel ist. Hier drinnen können alle
sagen, was sie denken, tun, was sie wollen, ohne auf Kritik zu
stoßen. Schließlich sind sie in einer psychiatrischen Anstalt.
Bei staatlichen Kontrollen benehmen sich diese Männer und
Frauen wie gefährliche Irre, denn viele sind auf Staatskosten
hier. Die Ärzte wissen Bescheid, doch es scheint eine
Weisung seitens der Besitzer zu geben, alles beim alten zu
belassen, da die Klinik nicht einmal zur Hälfte belegt ist.«
»Könnten die mir die Tabletten besorgen?«
»Versuch Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Sie nennen
ihre Gruppe >Die Bruderschaft<.«
Zedka zeigte auf eine weißhaarige Frau, die sich angeregt
mit einigen jüngeren Frauen unterhielt.
»Sie heißt Mari, sie gehört zur Bruderschaft. Frag sie!«
Veronika wollte schon auf Mari zugehen, doch Zedka
hielt sie zurück.
»Jetzt nicht: Sie amüsiert sich doch gerade. Sie läßt sich
nicht von ihrem Vergnügen abhalten, nur um nett zu einer
Wildfremden zu sein. Wenn sie erst einmal ablehnend reagiert hat, wirst du das nie mehr gutmachen können. Die
>Verrückten< glauben immer ihrem ersten Eindruck.«
Veronika lachte über die Betonung, mit der Zedka >die
Verrückten< aussprach. Doch es beunruhigte sie, daß alles
so normal, viel zu schön wirkte. Nach so vielen Jahren, in
denen sie von der Arbeit direkt in die Bar gegangen war,
von der Bar in das Bett eines Mannes, vom Bett in ihr Zimmer, von ihrem Zimmer zu ihrer Mutter, erlebte sie jetzt
etwas, das sie sich nie hatte träumen lassen: die psychiatrische
Anstalt, die Verrücktheit, das Eingeschlossensein. Hier
schämten sich die Menschen nicht zu sagen, daß sie verrückt
seien. Hier unterbrach niemand, was ihm gerade Spaß
machte, nur um nett zu einem anderen zu sein.
Sie begann zu bezweifeln, ob Zedka es ernst gemeint oder
ob sie nur nach Art der Geisteskranken vorgegeben hatte, in
einer besseren Welt zu leben als die anderen. Doch was
spielte das schon für eine Rolle? Sie erlebte etwas Interessantes, Neues, Unerwartetes. Man stelle sich das vor, ein
Ort, an dem die Leute so tun, als seien sie verrückt, nur um
genau das zu tun, wozu sie Lust haben.
Plötzlich spürte sie ein Herzstechen. Ihr fiel sofort die
Unterhaltung mit dem Arzt wieder ein.
»Ich möchte gern allein weitergehen«, sagte sie zu Zedka.
Letztlich war sie auch

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