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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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war.
    Da überkam sie wieder ein tiefer Frieden, und Veronika
schaute wieder in den gestirnten Himmel hinauf zum zunehmenden Mond - ihrem Lieblingsmond -, der den Platz,
an dem sie sich befand, in mildes Licht tauchte. Erneut hatte
sie das Gefühl, daß die Unendlichkeit und die Ewigkeit
Hand in Hand gingen, und man brauchte nur eine von ihnen
anzuschauen - wie das grenzenlose Universum -, um die
Gegenwart des anderen zu bemerken, die Zeit, die niemals
aufhört, nicht vergeht, die Gegenwart bleibt, in der alle
Geheimnisse des Lebens enthalten sind. Auf dem Weg von
der Krankenstation zum Aufenthaltsraum hatte sie ihrem
Haß so hemmungslos Luft gemacht, daß kein bißchen Groll
übriggeblieben war. Sie hatte zugelassen, daß ihre unterdrückten negativen Gefühle endlich an die Oberfläche kamen. Sie hatte sie ausgelebt, und nun wurden sie nicht mehr
gebraucht und konnten verschwinden.
    Sie verharrte still und gab sich ganz dem Augenblick hin.
Und fühlte, wie der Haß entwich und die Liebe in sie einströmte. Dann drehte sie sich zum Mond und spielte ihm zu
Ehren eine Sonate. Und der Mond hörte ihr zu und war stolz
auf sie, was wiederum die Sterne eifersüchtig machte. Daher
spielte sie dann eine Musik für die Sterne, eine für den
Garten und noch eine für die Berge, die sie im Dunkeln nur
erahnen konnte.
    Als sie gerade die Musik für den Garten spielte, erschien
ein anderer Verrückter: Eduard, ein unheilbarer Schizophrener. Sie erschrak nicht, im Gegenteil, sie lächelte ihn an,
und zu ihrer Überraschung lächelte er zurück.
    Auch in seine ferne Welt, die ferner war als der Mond,
konnte die Musik eindringen und Wunder tun.
Ich muß mir einen neuen Schlüsselring kaufen<, dachte Dr.
Igor, während er die Tür seines kleinen Konsultations zimmers in Villete öffnete. Das kleine Metallwappen, das
am Schlüsselbund hing, war zu Boden gefallen.
    Dr. Igor bückte sich und hob es auf. Was würde er mit
diesem Anhänger machen, der das Stadtwappen von Ljubljana trug? Am besten wegwerfen. Aber er könnte ihn auch
reparieren, eine neue Lederschlaufe dafür machen lassen.
Oder er könnte ihn seinem Enkel zum Spielen schenken.
Beides erschien ihm absurd: Ein Schlüsselanhänger war billig,
und sein Enkel zeigte nicht das geringste Interesse an
Wappen, er verbrachte seine Zeit vor dem Fernseher oder
spielte mit italienischen Computerspielen. Dennoch warf er
ihn nicht weg: Er steckte ihn in die Tasche und wollte später
entscheiden, was er damit tun würde.
    Eben aus diesem Grunde war er der Direktor einer Anstalt
und kein Kranker. Weil er nämlich lange überlegte, bis er
eine Entscheidung fällte.
    Er machte Licht - denn je weiter der Winter fortschritt,
desto später wurde es Tag. Wohnungswechsel, Scheidungen
und mangelnde Helligkeit waren Hauptursachen für Depressionen. Dr. Igor hoffte, daß der Winter bald vorbei und
die Hälfte seiner Probleme aus der Welt geschafft wären.
    Er warf einen Blick auf seinen Terminkalender. Er mußte
etwas finden, damit Eduard nicht an Unterernährung starb.
Dessen Schizophrenie machte ihn unberechenbar, jetzt hatte
er ganz aufgehört zu essen. Dr. Igor hatte schon intravenöse
Ernährung angeordnet, doch das konnte nicht ewig so weitergehen. Eduard war ein kräftiger junger Mann von 28 Jahren, doch auch mit der Infusion würde er am Ende bis aufs
Skelett abmagern.
    Was würde Eduards Vater sagen, einer der bekanntesten
Botschafter der jungen slowenischen Republik und einer der
führenden Köpfe bei den schwierigen Verhandlungen mit
Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre? Dieser Mann war
jahrelang jugoslawischer Beamter gewesen und hatte seine
Kritiker überlebt, die ihm vorwarfen, er diene dem Feind;
heute stand er immer noch im diplomatischen Dienst, nur
vertrat er jetzt ein anderes Land. Er war ein mächtiger, einflußreicher, von allen gefürchteter Mann.
    Dr. Igor beschäftigte das einen Augenblick lang - wie zuvor
der Schlüsselanhänger -, doch dann schlug er sich den
Gedanken aus dem Kopf: Dem Botschafter war es gleichgültig, ob sein Sohn gut oder schlecht aussah. Er hatte nicht
vor, ihn zu offiziellen Anlässen mitzunehmen oder sich von
ihm in die Teile der Welt begleiten zu lassen, in die er als
Vertreter der Regierung geschickt wurde. Eduard war in
Villete, und dort würde er immer bleiben, zumindest solange
sein Vater sein enormes Gehalt verdiente.
    Dr. Igor beschloß, die intravenöse Ernährung abzusetzen.
Eduard würde noch ein wenig

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