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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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weiter abnehmen, bis er von
sich aus wieder essen wollte. Sollte sich die Lage verschlechtern, würde er einen Bericht abfassen und den Fall
dem für Villete zuständigen Ärztegremium überantworten.
»Wenn du nicht in Schwierigkeiten geraten willst, teile immer
die Verantwortung«, hatte ihm sein Vater geraten, der
ebenfalls Arzt war und dem mehrere Patienten gestorben
waren, ohne daß er je Schwierigkeiten mit den Behörden
bekommen hätte.
    Nachdem Dr. Igor Weisung erteilt hatte, diese Behandlung von Eduard abzusetzen, wandte er sich dem nächsten
Fall zu. Laut Bericht war die Patientin Zedka Mendel soweit
genesen, daß sie entlassen werden konnte. Dr. Igor wollte
das mit eigenen Augen nachprüfen. Schließlich gab es nichts
Schlimmeres für einen Arzt als Beschwerden von den
Familienmitgliedern ehemaliger Patienten. Und die gab es
fast immer. Nach ihrem Aufenthalt in einer psychiatrischen
Heilanstalt gelang es nämlich nur wenigen Patienten, sich
wieder ins normale Leben einzufügen.
    Das lag nicht an Villete. Auch nicht an den anderen Anstalten sonstwo auf der Welt; das Problem der Reintegration
war überall gleich schwierig. So wie das Gefängnis den
Gefangenen nicht bessert, ihm im Gegenteil nur beibringt,
noch mehr Verbrechen zu begehen, so führen die psychiatrischen Anstalten dazu, daß die Kranken sich an eine vollkommen unwirkliche Welt gewöhnen, in der alles erlaubt ist
und niemand Verantwortung für sein Tun tragen muß.
    Es blieb nur ein Ausweg: selbst eine Behandlungsmethode zur Heilung der Geisteskrankheit zu entdecken. Dr.
Igor war dabei, eine Methode zu erarbeiten, die die Welt der
Psychiatrie revolutionieren sollte. In einer Heilanstalt
vermischten sich unheilbar Kranke mit solchen, die nur kurz
dort verblieben; letztere leiteten ein soziales Abgleiten ein,
das sich, wenn es einmal in Gang gesetzt war, nicht mehr
aufhalten ließ. Diese Zedka Mendel würde wieder ins
Krankenhaus zurückkehren. Diesmal aus freiem Willen. Sie
würde über nicht vorhandene Krankheiten klagen, nur um
wieder in die Nähe von Menschen zu kommen, die sie besser
zu verstehen schienen als die draußen.
    Wenn es ihm jedoch gelang, das Gift zu bekämpfen, das in
seinen Augen für die Verrücktheit verantwortlich war, dann
würde Dr. Igors Name in die Geschichte eingehen, und jeder
würde wissen, wo Slowenien lag. Diese Woche war ihm in
Gestalt einer gescheiterten Selbstmörderin eine Chance vom
Himmel gefallen. Diese Chance durfte er sich um kein Geld
der Welt entgehen lassen.
    Dr. Igor war zufrieden. Obwohl er aus ökonomischen
Gründen Behandlungen dulden mußte, die von der Ärzteschaft längst abgelehnt wurden - wie beispielsweise der
Insulinschock -, so kämpfte er in Villete, ebenfalls aus ökonomischen Gründen, für neue psychiatrische Behandlungsmethoden. Erstens hatte er genug Zeit und Personal, um das
Gift zu erforschen, und zweitens duldeten - wohlgemerkt:
duldeten, nicht erlaubten es - die Besitzer, daß eine Gruppe,
die >Bruderschaft< genannt wurde, in der Anstalt bleiben
durfte. Aus humanitären Gründen, so führten sie an, sollte
dem kürzlich geheilten Patienten gestattet werden, selbst zu
bestimmen, wann er reif war, um wieder in die Welt hinauszutreten. Eine Gruppe von Patienten hatte daraufhin beschlossen, in Villete zu bleiben wie in einem exklusiven Hotel
oder in einem Club, in dem sich Leute mit gemeinsamen
Neigungen versammeln. Dr. Igor konnte so die Verrücken
und die Gesunden zusammenleben lassen und dazu beitragen, daß letztere erstere positiv beeinflußten. Damit die
Dinge nicht aus dem Ruder liefen und die Verrückten die
Geheilten wieder »ansteckten«, mußten die Mitglieder der
>Bruderschaft< die Anstalt mindestens einmal am Tag verlassen.
    Dr. Igor wußte, daß die von den Aktionären angeführten
humanitären Gründe, aufgrund deren die Geheilten in der
Anstalt bleiben konnten, nur ein Vorwand waren. Sie fürchteten, daß Sloweniens kleine charmante Hauptstadt Ljubljana zu wenig reiche Verrückte hergab, um diesen teuren,
modernen Betrieb aufrechtzuerhalten. Außerdem verfügte
das öffentliche Gesundheitswesen über erstklassige psychiatrische Anstalten, die Villete Konkurrenz machten.
    Als die Aktionäre die alte Kaserne in ein Krankenhaus
umwandelten, hatten sie als Zielgruppe primär die vom
Krieg mit Jugoslawien Betroffenen im Sinn gehabt. Doch
der Krieg währte nur kurz. Die Aktionäre hatten darauf
gesetzt, daß der Krieg wiederaufgenommen

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