Veronica beschließt zu sterben
schaffte.«
»Könnte ich vielleicht mit meiner Tochter sprechen?«
fragte die Frau, die sich weder für Japaner, noch Indianer
oder Kanadier interessierte.
»Ja, gleich«, sagte Dr. Igor, der sich nicht gern unterbrechen ließ. »Doch vorher möchte ich, daß Sie eines verstehen: Von einigen schweren pathologischen Fällen einmal
abgesehen, werden Menschen verrückt, wenn sie versuchen,
aus der Routine auszubrechen. Haben Sie verstanden?«
»Ich habe das sehr gut verstanden«, antwortete sie. »Und
wenn Sie glauben, daß ich nicht in der Lage wäre, mich um
sie zu kümmern, seien Sie ganz beruhigt: Ich habe nie versucht, mein Leben zu verändern.«
»Wie gut«, bemerkte Dr. Igor mit gespielter Erleichte-
rung. »Haben Sie sich schon einmal vorgestellt, wie es wäre,
wenn wir nicht gezwungen wären, jeden Tag in unserem
Leben dasselbe zu tun? Wenn wir beispielsweise beschließen
würden, nur dann zu essen, wenn wir Hunger haben, wie
dann die Hausfrauen und die Restaurants damit zurechtkämen?«
>Es wäre viel normaler, nur dann zu essen, wenn wir
Hunger haben<, dachte die Frau, sagte aber nichts, weil sie
fürchtete, daß man ihr sonst verbieten würde, mit Veronika
zu sprechen.
»Das wäre eine Katastrophe«, sagte sie. »Ich bin Hausfrau und weiß, wovon ich spreche.«
»Da haben wir das Frühstück, das Mittagessen, das
Abendessen: Wir müssen immer zur selben Zeit aufstehen
und uns einmal in der Woche ausruhen. Weihnachten gibt
es, damit man Geschenke machen, Ostern, damit man drei
Tage am See verbringen kann. Würden Sie sich freuen, wenn
Ihr Mann, weil ihn plötzlich eine Welle der Leidenschaft erfaßt, beschließt, Sie im Wohnzimmer zu lieben?«
>Wovon redet dieser Mann da eigentlich? Ich bin hierhergekommen, um meine Tochter zu sehen!< überlegte die
Frau.
»Ich wäre traurig«, antwortete sie vorsichtig und hoffte,
die richtige Antwort gegeben zu haben.
»Großartig«, brüllte Dr. Igor. »Geliebt wird nur im Bett.
Sonst würden wir ein schlechtes Beispiel abgeben und Anarchie säen.«
»Kann ich meine Tochter sehen?« unterbrach die Frau.
Dr. Igor resignierte. Diese Bäuerin würde nie begreifen,
worüber er sprach, sie war nicht daran interessiert, Verrücktheit auf philosophischer Ebene zu diskutieren, obwohl
sie wußte, daß ihre Tochter einen echten Selbstmordversuch
gemacht hatte und ins Koma gefallen war.
Er klingelte, und seine Sekretärin erschien.
»Lassen Sie bitte das Selbstmordmädchen kommen«,
sagte er. »Die mit dem Brief an die Zeitschrift, in dem sie
sagte, daß sie sich umbringen würde, um zu beweisen, daß es
Slowenien gibt.«
Ach will sie nicht sehen. Ich habe meine Verbindungen zur
Welt schon gekappt.«
Es war nicht einfach, das vor allen anderen dort im Aufenthaltsraum zu sagen. Doch der Krankenpfleger war auch
nicht diskret gewesen und hatte laut verkündet, daß ihre
Mutter auf sie wartete, als wäre das von allgemeinem Interesse.
Sie wollte ihre Mutter nicht sehen, weil beide leiden würden. Veronika hatte Abschiede immer gehaßt.
Der Pfleger ging, und sie schaute wieder auf die Berge.
Nach einer Woche war die Sonne endlich zurückgekommen. Sie wußte dies schon seit der vergangenen Nacht, denn
der Mond hatte es ihr erzählt, während sie Klavier gespielt
hatte.
>Nein, das ist Wahnsinn, ich verliere die Kontrolle. Die
Gestirne sprechen nicht. Nur zu denen, die sich Astrologen
nennen. Wenn der Mond mit jemandem gesprochen hat, so
nur mit jenem Schizophrenen.<
Kaum hatte sie das gedacht, da spürte sie ein Stechen im
Herzen, und ein Arm wurde taub. Veronika sah, wie sich
die Decke drehte: ein Herzanfall!
Sie verfiel in eine Art Euphorie, als würde sie der Tod
von der Angst vor dem Tod befreien. Also gut, das war das
Ende! Vielleicht würde sie etwas Schmerzen verspüren, doch
was waren fünf Minuten Todeskampf gegen eine Ewigkeit
in Stille? Sie schloß einfach die Augen: Sie hatte
die Toten mit den offenen Augen in den Filmen immer entsetzlich gefunden.
Doch der Herzanfall schien anders zu sein, als sie es sich
vorgestellt hatte. Veronika begann nach Luft zu ringen und
stellte entsetzt fest, daß sie kurz vor dem Erstickungstod
stand, die Todesart, die sie am meisten fürchtete. Sie würde
sterben, als wäre sie lebendig begraben worden oder als
würde man sie plötzlich auf den Meeresgrund hinunterziehen.
Sie schwankte, fiel zu Boden, fühlte, wie ihr Gesicht aufschlug, versuchte weiterhin unter Riesenanstrengungen zu
atmen, doch sie bekam
Weitere Kostenlose Bücher