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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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In die völlige Einsamkeit. Nach Villete.
In den Warteraum des Todes.
    Fast hätte sie den Selbstmordversuch bereut, doch sie
wies diesen Gedanken entschieden von sich. Denn jetzt
fühlte sie etwas, was sie bisher nie zugelassen hatte: Haß.
    Haß. Etwas fast so reales wie Wände oder Klaviere oder
Krankenschwestern. Die zerstörende Kraft, die aus ihrem
Körper strömte, war beinahe greifbar. Sie ließ das Gefühl
zu, ohne sich darum zu scheren, ob es gut war oder nicht.
Sie hatte genug von Selbstbeherrschung, Masken, angepaßtem
Verhalten. Veronika wollte sich in den letzten zwei oder drei
Tagen ihres Lebens endlich einmal gehenlassen.
    Sie hatte einem älteren Mann eine Ohrfeige verpaßt, sich
mit dem Krankenpfleger angelegt, war bewußt nicht nett
gewesen und hatte nicht mit den anderen geredet, als sie
allein sein wollte, und nun konnte sie sogar hassen, ohne
gleich alles um sich herum kurz und klein zu schlagen, damit
sie nicht für den Rest ihres Lebens mit Beruhigungs-mitteln
in ein Spitalbett verfrachtet würde.
    In diesem Augenblick haßte sie alles. Sich selbst, die Welt,
den Stuhl, der vor ihr stand, die kaputte Heizung auf dem
Flur, die vollkommenen Menschen ebenso wie die Kriminellen. Sie war in einer psychiatrischen Anstalt und konnte
Dinge fühlen, die andere Menschen vor sich selbst verbargen. Denn wir sind alle dazu erzogen worden, zu lieben, zu
akzeptieren, zu versuchen, einen Ausweg zu finden, Konflikte zu vermeiden. Veronika haßte alles, doch vor allem
haßte sie die Art, wie sie ihr Leben geführt hatte, ohne je all
die Hunderte von anderen Veronikas zu entdecken, die in
ihr lebten und die interessant, verrückt, neugierig, mutig,
risikofreudig waren.
    Irgendwann begann sie auch Haß auf die Person zu
fühlen, die ihr der liebste Mensch auf der Welt war, auf ihre
Mutter. Die vorbildliche Ehefrau, die den ganzen Tag arbeitete und abends erst noch das Geschirr wusch, die ihr
Leben opferte, damit die Tochter eine gute Ausbildung,
Klavier- und Geigenunterricht bekam, sich wie eine Prinzessin kleiden, Designerklamotten kaufen konnte, während
sie selber weiterhin in dem geflickten alten Kleid herumlief.
    >Wie kann ich jemanden hassen, der mir nur Liebe gegeben hat?< dachte Veronika verwirrt und wollte ihr Gefühl
zurücknehmen. Doch es war bereits zu spät, der Haß war
entfesselt und hatte die Tore zu ihrer persönlichen Hölle
aufgestoßen. Sie haßte die Liebe, die ihr gegeben worden
war, weil sie keine Gegenleistung verlangt hatte - was absurd, unlogisch und unnatürlich ist.
    Die Liebe, die keine Gegenleistung erwartete, erfüllte sie
mit Schuldgefühlen, mit dem Wunsch, den in sie gesetzten
Erwartungen zu entsprechen, auch wenn das bedeutete,
aufzugeben, was sie für sich erträumt hatte. Es war eine
Liebe, die ihr jahrelang eine heile Welt vorgegaukelt hatte,
ohne zu bedenken, daß sie eines Tages aufwachen und der
Wirklichkeit wehrlos ausgeliefert sein würde.
    Und ihr Vater? Sie haßte auch ihren Vater. Denn im Gegensatz zu ihrer Mutter, die die ganze Zeit arbeitete, wußte er
zu leben, nahm sie mit in Bars und ins Theater, wo sie sich
amüsierten, und als sie noch jünger war, hatte sie ihn
heimlich geliebt, nicht als Vater, sondern als Mann. Sie haßte
ihn, weil er immer so bezaubernd war und so offen für andere, außer für ihre Mutter, die einzige, die es wirklich verdiente.
    Sie haßte alles. Die Bibliothek mit ihren Bergen von
Büchern, die einem das Leben erklärten, die Schule, für die
sie nächtelang Algebra büffeln mußte, obwohl sie außer ein
paar Lehrern und Mathematikern niemanden kannte, der
Algebra brauchte, um glücklich zu sein. Warum mußten
Schüler so viel Algebra oder Geometrie und diesen ganzen
Berg nutzloser Dinge lernen?
    Veronika schob die Tür zum Aufenthaltsraum auf, ging zum
Klavier, öffnete den Deckel, schlug mit aller Kraft auf die
Tasten. Ein verrückter, gellender Mißklang hallte durch den
leeren Raum, traf die Wände und prallte als schriller Lärm,
der sie bis ins Innerste aufwühlte, an ihr Ohr zurück. Und
doch entsprach er genau ihrer Stimmung.
    Sie schlug wieder auf die Tasten, und noch einmal hallten
die dissonanten Töne wider.
>Ich bin verrückt. Ich darf es sein. Ich darf hassen und auf
dem Klavier herumhämmern. Geisteskranke haben noch nie
Töne ordentlich aneinandergereiht.<
Sie schlug ein-, zwei-, zehn-, zwanzigmal in die Tasten,
und mit jedem Mal wurde ihr Haß kleiner, bis er vollkommen verschwunden

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