Veronica beschließt zu sterben
Augenblicke lang war
Zedka versucht, ihr alles zu erzählen, doch dann überlegte
sie es sich anders. Die Menschen lernen nie aus dem, was
man ihnen erzählt, sie müssen es selber herausfinden.
Der Krankenpfleger stach die Nadel in ihre Vene und
injizierte Glukose. Wie von einem riesigen Arm gezogen
löste sich ihr Geist von der Decke des Krankensaals, sauste
in Höchstgeschwindigkeit durch einen schwarzen Tunnel
und kehrte in den Körper zurück.
»Hallo Veronika!«
Das Mädchen fuhr zusammen.
»Geht es dir gut?«
»Ja. Diese gefährliche Behandlung habe ich zum Glück
überlebt, eine weitere wird es nicht geben.«
»Woher weißt du das? Hier gelten die Wünsche des Pa
tienten nichts.«
Zedka wußte es, weil sie auf ihrer Astralreise im Büro
von Dr. Igor gewesen war.
»Ich weiß es nun mal, erklären kann ich es nicht. Erinnerst du dich an meine erste Frage?«
»Könnten Sie mir sagen, was es heißt, verrückt zu sein?«
»Genau. Diesmal antworte ich dir nicht mit einem
Gleichnis: Die Verrücktheit ist die Unfähigkeit, seine Ideen
zu vermitteln. Als wärest du in einem fremden Land. Du
siehst alles, verstehst, was um dich herum geschieht, kannst
aber nichts erklären und keine Hilfe bekommen, weil du die
Landessprache nicht verstehst.«
»So ist es uns allen schon einmal ergangen.«
»Auf die eine oder andere Art sind wir alle verrückt.«
Jenseits des vergitterten Fensters war der Himmel von Sternen übersät, hinter den Bergen ging ein im zunehmenden
Viertel stehender Mond auf. Die Dichter liebten den Vollmond, schrieben Tausende von Versen über ihn, doch Veronika
liebte den zunehmenden Mond, weil er größer werden, seine
ganze Oberfläche mit Helligkeit füllen würde, bevor er
unausweichlich wieder abnahm.
Sie wäre gern zum Klavier im Aufenthaltsraum gegangen
und hätte diese Nacht mit einer der schönen Sonaten gefeiert, die sie am Konservatorium gelernt hatte. Während sie in
den Himmel blickte, durchströmte sie ein unbeschreibliches
Wohlgefühl, als hätte die Unendlichkeit des Universums
auch ihre eigene Unendlichkeit offenbart. Doch eine
Stahltür und eine lesende Frau standen zwischen ihr und der
Erfüllung ihres Wunsches. Zudem spielte niemand zu dieser
Nachtzeit Klavier. Sie würde die ganze Nachbarschaft
aufwecken.
Veronika lachte. Die »Nachbarschaft«, das waren die
Krankensäle voller Verrückter, und die Verrückten waren
mit Schlafmitteln vollgepumpt. Das Wohlgefühl hielt jedoch
an. Sie stand auf und ging zu Zedkas Bett, doch die schlief
tief und fest, vielleicht erholte sie sich von der fürchterlichen
Erfahrung, die sie durchgemacht hatte.
»Geh ins Bett zurück«, sagte die Krankenschwester.
»Brave Mädchen schlafen und träumen von Engelchen oder
ihrem Liebsten.«
»Behandeln Sie mich nicht wie ein Kind. Ich bin keine
zahme Verrückte, die vor allem Angst hat. Ich bin wütend,
habe hysterische Anfälle, mache weder vor meinem noch
vor dem Leben anderer halt. Und heute bin ich besonders
schlecht drauf. Ich habe den Mond angeschaut und brauche
jetzt jemanden, mit dem ich sprechen kann.«
Die Krankenschwester schaute sie überrascht an.
»Haben Sie Angst vor mir?« hakte Veronika nach. »In ein
oder zwei Tagen werde ich sterben. Was habe ich zu verlieren?«
»Warum machen Sie nicht einen kleinen Spaziergang,
junge Dame, damit ich mein Buch zu Ende lesen kann?«
»Weil es ein Gefängnis gibt und eine Kerkermeisterin, die
so tut, als läse sie ein Buch, nur um den anderen zu zeigen,
daß sie eine intelligente Frau ist. In Wahrheit achtet sie aber
auf jede Bewegung auf der Station und hütet die Schlüssel
wie einen Schatz. Die Bestimmungen verlangen das, und sie
gehorcht, weil sie so eine Autorität zeigen kann, die ihr im
Alltag mit ihrem Mann und ihren Kindern fehlt.«
Veronika zitterte, wußte aber nicht genau, weshalb.
»Schlüssel?« fragte die Krankenschwester. »Die Tür steht
immer offen. Glauben Sie, ich schließe mich hier mit einer
Bande Geistesgestörter ein?«
>Die Tür soll offen sein? Vor ein paar Tagen wollte ich
hier raus, und diese Frau ist sogar mit mir ins Bad gegangen,
um mich zu überwachen. Was erzählt sie mir da?<
»So wörtlich habe ich's nicht gemeint«, fuhr die Kran-
kenschwester fort. »Tatsache ist, daß wir hier wegen der
Schlaftabletten nicht viel Kontrolle brauchen. Zittern Sie
vor Kälte?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, das hat was mit meinem Herzen
zu tun.«
»Wenn Sie wollen, machen Sie doch Ihren
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