Veronica beschließt zu sterben
ich dir eine Geschichte erzählt, um dir zu erklären, daß
die Welt genauso ist, wie wir sie sehen. Alle fanden, daß
der König verrückt war, weil er eine Ordnung wollte, die in
den Köpfen seiner Untertanen nicht mehr vorhanden war.
Es gibt allerdings Dinge im Leben, die bleiben dieselben,
wie auch immer wir sie betrachten. Und das gilt für alle
Menschen. Wie beispielsweise die Liebe.«
Zedka bemerkte, daß sich Veronikas Blick verändert
hatte. Sie beschloß fortzufahren.
»Ich würde sagen, wenn einem Menschen nur wenig Zeit
zum Leben bleibt und er beschließt, den Rest seines Lebens
an einem Bett zu sitzen und einen schlafenden Mann anzuschauen, dann ist Liebe im Spiel. Ich würde noch mehr
sagen: Wenn dieser Mensch dabei einen Herzanfall hat und
nichts sagt, nur damit er diesen Mann nicht verlassen muß,
dann zeigt das, daß diese Liebe noch viel größer werden
kann.«
»Es könnte auch Verzweiflung sein«, sagte Veronika,
»der Versuch zu beweisen, daß es letztlich keinen Grund
gibt, unter der Sonne weiterzukämpfen. Ich kann nicht in
einen Mann verliebt sein, der in einer anderen Welt lebt.«
»Ein jeder von uns lebt in seiner eigenen Welt. Doch
wenn du in den gestirnten Himmel blickst, dann siehst du,
daß all diese verschiedenen Welten sich zu Konstellationen,
Sonnensystemen, Galaxien verbinden.«
Veronika stand auf und trat ans Kopfende von Eduards
Bett. Zärtlich strich sie ihm durchs Haar. Sie war glücklich,
daß sie jemanden hatte, mit dem sie reden konnte.
»Vor vielen Jahren, als ich noch ein Kind war, hat mich
meine Mutter gezwungen, Klavierspielen zu lernen. Ich
sagte mir, daß ich das nur können würde, wenn ich verliebt
wäre. Gestern nacht habe ich das erste Mal in meinem Leben
gespürt, wie die Töne aus meinen Fingern kamen, als hätte
ich keine Kontrolle über das, was ich tat.
Mich leitete eine Kraft, formte Melodien und Akkorde,
von denen ich nie geglaubt hatte, daß ich sie einmal würde
spielen können. Ich habe mich dem Klavierspiel hingegeben,
wie ich mich zuvor diesem Mann hingegeben habe, ohne
daß er auch nur ein Haar von mir berührt hätte. Gestern war
ich nicht ich selber, weder als ich mich dem Sex
hingegeben, noch als ich Klavier gespielt habe. Und dennoch denke ich, daß ich ich selber war.
Nichts, was ich da sage, macht einen Sinn«, meinte Veronika kopfschüttelnd.
Zedka erinnerte sich an all die Wesen, denen sie im Raum
begegnet war und die in anderen Dimensionen schwebten.
Sie wollte Veronika davon erzählen, doch dann fürchtete
sie, sie noch mehr durcheinanderzubringen.
»Bevor du noch einmal sagst, daß du sterben wirst,
möchte ich dir etwas sagen: Es gibt Menschen, die verbringen
ihr ganzes Leben mit der Suche nach einem Augenblick wie
dem, den du gestern erlebt hast, und erreichen ihn nicht.
Deshalb sterbe, wenn du denn sterben mußt, mit einem
Herzen voller Liebe.«
Zedka stand auf.
»Du hast nichts zu verlieren. Viele Menschen erlauben
sich gerade aus diesem Grund, nicht zu lieben, weil zu viel,
viel Zukunft und Vergangenheit auf dem Spiel stehen. In
deinem Fall gibt es nur die Gegenwart.«
Sie kam näher und gab Veronika einen Kuß.
»Wenn ich noch länger hierbleibe, dann gehe ich überhaupt nicht mehr weg. Ich bin zwar von meiner Depression
geheilt, aber ich habe in mir andere Formen von Verrücktheit
entdeckt. Ich will sie mit mir nehmen und beginnen, das
Leben mit meinen eigenen Augen zu sehen.
Als ich hierherkam, war ich eine depressive Frau. Heute
bin ich verrückt und stolz darauf. Draußen werde ich mich
genauso verhalten wie die anderen. Ich werde im Supermarkt einkaufen, mit meinen Freundinnen tratschen, eine
Menge Zeit vor dem Fernseher vertrödeln. Doch ich weiß,
daß meine Seele frei ist, und ich kann von anderen Welten
träumen und mit ihnen sprechen, von denen ich, bevor ich
hierherkam, keine Ahnung hatte.
Ich werde mir die eine oder andere Dummheit leisten, nur
damit die Leute sagen: Die war in Villete! Doch ich
weiß, daß meine Seele vollständig sein wird, weil mein Leben
einen Sinn hat. Ich kann einen Sonnenuntergang anschauen
und daran glauben, daß Gott dahintersteht. Wenn jemand
mir zu sehr auf die Nerven geht, werde ich irgend etwas
Unmögliches sagen und mich nicht darum scheren, was die
anderen denken, denn alle werden ja sagen: Die war in Villete!
Ich werde die Männer auf der Straße ansehen, ihnen in die
Augen blicken und mich nicht schämen, wenn ich mich von
ihnen begehrt fühle. Doch
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