Veronica beschließt zu sterben
übertölpeln.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich bin aus einem ganz
konkreten Grund hierhergekommen - dem Paniksyndrom -
und aus einem sehr abstrakten Grund geblieben: der Unfähigkeit, ein anderes Leben ohne Arbeit und ohne Ehemann
in Angriff zu nehmen. Ich bin ganz Ihrer Meinung: Ich hatte
die Lust daran verloren, ein neues Leben zu beginnen, an
das ich mich hätte gewöhnen müssen. Und ich gehe noch
weiter: Ich finde, daß eine psychiatrische Anstalt auch mit
Elektroschocks - Verzeihung, EKT , wie Sie es zu nennen
belieben -, mit ihren festen Zeiten, den hysterischen Anfällen
einiger Insassen, den Regeln leichter zu ertragen ist als die
Welt mit ihren Gesetzen, die, wie Sie sagen, alles tun, um
Gleichheit zu erzeugen.
Nun habe ich gestern nacht eine Frau Klavier spielen
hören. Sie spielte meisterhaft. So habe ich selten jemanden
spielen hören. Während ich die Stücke anhörte, dachte ich
an alle, die gelitten haben, um diese Sonaten, Preludien,
Adagios zu komponieren, daran, wie sie ausgelacht wurden,
wenn sie ihre Stücke - die anders waren - denen vorspielten,
die in der Musikwelt das Sagen hatten. An die Schwierigkeiten und die Erniedrigungen, um jemanden zu finden,
der ein Orchester finanzierte. An die Buhrufe, die sie von
einem Publikum erhielten, das derartige Harmonien noch
nicht gewohnt war.
Die Komponisten mögen es schwergehabt haben, doch
diese junge Frau hat noch mehr gelitten, denn sie wußte,
daß sie sehr bald sterben würde. Und ich, werde ich nicht
auch sterben? Wo habe ich meine Seele gelassen, um die
Musik meines Lebens mit der gleichen Begeisterung zu
spielen?«
Dr. Igor hörte ihr schweigend zu. Was er gedacht hatte,
schien aufzugehen. Doch es war noch zu früh, um Gewißheit
zu haben.
»Wo ist meine Seele geblieben?« fragte Mari. »In meiner
Vergangenheit. In der Vorstellung von dem, was ich als
mein Leben ansah. Meine Seele war in dem Augenblick gefangen, als ich ein Haus, einen Ehemann, eine Anstellung
hatte, von der ich mich befreien wollte, jedoch nie den Mut
hatte, es zu tun.
Meine Seele befand sich in der Vergangenheit. Doch
heute ist sie hier angelangt, und ich fühle sie wieder voller
Begeisterung in meinem Körper. Ich weiß nicht, was ich
jetzt tun soll. Ich weiß nur, daß ich drei Jahre gebraucht
habe, um zu begreifen, daß das Leben mich auf einen anderen
Weg drängte, den ich nicht gehen wollte.«
»Ich glaube, ich sehe Anzeichen einer Besserung«, sagte
Dr. Igor.
»Ich hätte nicht darum bitten müssen, Villete zu verlassen.
Ich hätte einfach nur durch das Tor hinausgehen und nie
wieder kommen können. Ich mußte es aber jemandem
sagen, und darum sage ich's Ihnen: Der Tod dieses Mädchens hat mich mein Leben begreifen lassen.«
»Mir scheint, diese Anzeichen einer Besserung verwandeln sich in eine Wunderheilung«, lachte Dr. Igor. »Und
was wollen Sie nun tun?«
»Nach El Salvador gehen und mich um die Straßenkinder
kümmern.«
»Sie brauchen nicht so weit weg zu gehen, weniger als
zweihundert Kilometer entfernt liegt Sarajewo. Der Krieg
ist zu Ende, doch die Probleme gehen weiter.«
»Dann gehe ich nach Sarajewo.«
Dr. Igor holte ein Formular aus der Schublade, füllte es
sorgfältig aus. Dann erhob er sich und geleitete Mari zur
Tür.
»Gehen Sie mit Gott«, sagte er, kehrte in sein Arbeitszimmer zurück und schloß sogleich die Tür. Es mißfiel
ihm, wenn er seine Patienten liebgewann, doch verhindern
konnte er es nie. Mari würde in Villete fehlen.
Als Eduard die Augen öffnete, war die junge Frau noch da.
Während seiner ersten Elektroschocks hatte er anschließend
immer viel Zeit damit verbracht zu versuchen, sich an das zu
erinnern, was vorher geschehen war. Darin lag ja auch
gerade der erwünschte therapeutische Effekt, nämlich eine
partielle Amnesie zu erzeugen, damit der Kranke das
Problem vergaß, das ihn bedrängte, und er sich beruhigte.
Doch je häufiger er Elektroschocks bekam, desto kürzer
hielt die Wirkung an. Er erkannte die junge Frau sofort.
»Du hast von den Visionen des Paradieses gesprochen,
während du geschlafen hast«, sagte sie und strich ihm übers
Haar.
Visionen des Paradieses? Ja, Visionen des Paradieses.
Eduard blickte sie an. Er wollte ihr alles erzählen.
In diesem Augenblick kam jedoch eine Krankenschwester
mit einer Spritze herein.
»Die ist für Sie«, sagte sie zu Veronika. »Anweisungen
von Dr. Igor.«
»Ich habe aber heute schon eine gehabt, ich will keine
zweite«, antwortete sie.
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