Verräterherz (German Edition)
Auf jeden Fall war mir eines klar: Ich würde mehr darüber erfahren müssen, was Morlet mit seinem Ritual hatte bezwecken wollen.
~ღ~
Es wurde Zeit, mich der aristokratischen Vampirgesellschaft wie ein Schatten anzunähern, denn nur einen Feind, den man kennt, kann man irgendwann vielleicht auch besiegen. Aber natürlich konnte ich mich nicht einfach so unters Volk mischen. Ich musste andere Wege finden, um die Geheimnisse der elitären Bande zu ergründen. Doch vor allem musste ich herausfinden, ob irgendwo etwas über die Rolle der Hüter verzeichnet war. Also wagte ich eine literarische Annäherung und ging am nächsten Morgen in die alte Bibliothèque nationale de France. Ich verbrachte Stunden dort zwischen den stummen Zeugen der Vergangenheit, die immer dann lebhaft zu erzählen beginnen, wenn man sie aufschlägt und die Augen konzentriert über die Zeilen schweifen lässt.
Ich blieb bei vielen Geschichten hängen, die so rein gar nichts mit dem zu tun hatten, was ich eigentlich in Erfahrung bringen wollte. Oftmals sogar bei Abhandlungen, die nicht einmal etwas mit Vampiren zu tun hatten. Ich erkannte, dass ich Büchern bislang eindeutig zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte, und ich musste wieder an meinen Literaten denken, der tot in der Wanne lag, und der sich vielleicht darüber gefreut hätte, dass ich nun auf dem Weg war, zum Büchernarr zu werden.
Ich las über einen Prediger, der vierzehn Sprachen beherrscht haben soll. In diesem Moment begriff ich, dass man als Vampir tatsächlich ein paar unschlagbare Vorteile den Menschen gegenüber hat, abgesehen von der Unsterblichkeit und der absoluten Resistenz gegen Krankheiten natürlich.
Ich war in der Lage, nicht nur die Gestalt eines von mir getöteten Menschen zu übernehmen, sondern auch dessen Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen und zu verstehen. Und plötzlich machte sich endlich ein Hoffnungsschimmer in mir breit! Nein, es war nicht die Hoffnung, meinen Häschern entkommen zu können, sondern ich entdeckte endlich die Lösung für mein Problem mit der Leiche meines Literaten. Denn es war naheliegend, dass ich das Autofahren durch die Übernahme des jungen Fordant eben doch beherrschte. Ich hatte dergleichen lediglich noch nie getestet, weil es nicht nötig gewesen war und ich andere Fortbewegungsmittel bevorzugte. Wer möchte schon alleine in einem Auto sitzen, wenn er stattdessen den Geruch von köstlichen Menschen in der Metro genießen kann? Ja, ich muss zugeben, dass so mancher Fahrgast von mir nach dem Aussteigen in eine dunkle Ecke gezogen wurde, in der er mir sein Blut überlassen musste. Die Nächte eigneten sich dafür hervorragend und ich hatte sogar die Fahrpläne weitestgehend im Kopf, damit eventuelle Schreie meiner Opfer zeitlich angepasst vom Kreischen der Bremsen eines neuen Zuges übertönt wurden.
Aber ich schweife ab. Verzeih!
Während ich also meine Finger über einige braune Buchrücken streichen ließ, beschloss ich, noch in der gleichen Nacht auszuprobieren, ob meine Hoffnungen begründet waren. Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Bücher, obwohl ich mir wirklich nicht sicher war, was ich überhaupt suchte. Wo sollte ich anfangen? In keinem Titel kam das Wort Hüter in dem Sinne vor, wie ich es benötigte, das hatte ich zuvor im Bibliotheksverzeichnis nachgesehen. Immer wieder fand ich es nur in bezug auf Fußball – ein Sport, der mich weder interessiert, noch Hilfe versprach – oder im Zusammenhang mit Schaf- und Ziegenherden oder ähnlichem. Die Schafherden hatte ich jedoch seit meiner Zeit in Irland endgültig hinter mir gelassen. Was ich suchte, waren Hütern, die ihre Vampirherde beschützten. Doch meine Suche blieb erfolglos.
Und so schlenderte ich durch die Gänge, bis ich schließlich auf die Idee kam, mir Bücher über obskure Rituale näher anzusehen. Einmal mehr begegnete mir bei dieser Lektüre die Gewalt, die Menschen einander antun ... das ist traurig, selbst für einen bekennenden Mörder wie mich. Aber ich möchte dich nicht erneut damit langweilen, warum ich töten muss, und warum offensichtlich manche Menschen ein perverses Vergnügen daran finden, zu töten, obwohl sie es nicht zum Überleben brauchen, sondern sich nur eine kranke und verachtenswerte Form der Befriedigung dadurch verschaffen.
In der Mitte des Buches fand ich endlich einen Bericht über Rituale von Geisterjägern, und kurz darauf eine Abhandlung über das Pfählen von Vampiren. Meine Aufmerksamkeit war nun auf die
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