Verräterherz (German Edition)
Tätowierten empfand ich ein schlechtes Gewissen, denn Leon-Joel Fenouillet hatte es nicht verdient, durch mich zu sterben. Es tat mir leid, dass er dieses verhängnisvolle Nasenbluten bekommen hatte. Und es tat mir leid, dass er auf diese schreckliche Weise erfahren musste, dass meine Geschichte nicht nur eine erfundene Erzählung war, sondern den Tatsachen entsprach.
Im nachhinein fragte ich mich, wann wohl der Moment gewesen war, als er dies vollends begriff. Vielleicht, als ich seinen Kopf auf den Tisch schlug und er verstanden haben musste, dass ich es nur tat, um weiterhin an sein Blut zu kommen. Natürlich hätte ich ihm auch in die Halsschlagader beißen können ... aber es war der Reiz des neuen, der mich gefangen nahm. Nun, nachdem er tot war und nur noch sein Laptop auf dem Tisch leise vor sich hinsurrte, fühlte ich mich schon ziemlich schuldig.
Nachdem ich mir selbst das Gesicht am Spülbecken sauber gewischt hatte, brachte ich die Leiche meines Literaten ins Badezimmer. Ich lagerte ihn in der Wanne, bis mir etwas einfallen würde, wie ich den toten Körper loswurde, da ich nicht vorhatte, in seine Rolle zu schlüpfen. Natürlich war mir klar, dass ich ein Transportmittel benötigen würde, und ein solches befand sich nun ja sogar in meinem Besitz. Doch was nutzte es mir, wenn ich doch niemals gelernt hatte, ein Auto zu fahren? Der Fortschritt hat für mich ebenso viele Vorteile, wie für euch, aber er hat auch immense Nachteile, mit denen ich mich arrangieren muss.
Früher war für mich persönlich alles viel einfacher. An jeder Ecke starben Menschen, die ebenso schnell von Ratten oder anderem Getier angefressen wurden. Es fiel nicht so auf, wenn man einen leblosen Körper in einer miesen Gegend in eine dunkle Ecke legte, denn dort hauchte so mancher sein Leben aus, obwohl ihm kein Vampir zu nahe gekommen war. Die Ratten bedienten sich recht zügig an leblosen Körpern, da sie untereinander einen Konkurrenzkampf um die größten Bissen ausfechten mussten. Ich vermute, dass man bei den Opfern, die von Vampiren getötet wurden, daher auch nur in seltenen Fällen wegen der Bisswunden stutzig wurde. In der heutigen Zeit jedoch ist alles sehr viel schwieriger geworden. Die Untersuchungen, Tests und moderne Gerätschaften machen es schwierig, einen gewaltsamen Tode zu vertuschen. Es sind harte Zeiten für Vampire und man muss schon verdammt erfinderisch sein, was mir normalerweise auch nicht sonderlich nicht schwer fiel.
Nun jedoch, da ich vor allem aufpassen muss, dass mir andere Vampire nicht auf die Schliche kommen, fallen die Orte weg, an die ich viele meiner Opfer sonst bringen konnte. Ich werde dir nicht sagen, was für Orte das sind, denn es gibt keine Veranlassung dafür, dir ein solches Wissen aufzubürden.
Als ich in die Küche zurückkehrte, griff ich zu der Küchenrolle, die in einer Halterung an der Wand hing, befeuchtete ein paar Blätter unter dem Wasserhahn und wischte vorsichtig die Blutspritzer vom Monitor des Laptops. Als ich so vorsichtig mit diesen verschwendeten Resten meines Mahls umging, fühlte ich mich plötzlich an eine Begebenheit erinnert, die ich schon viel zu lange aus den Augen verloren hatte. Ich erinnerte mich an Jaqueline Marais, die Freundin von Madame Ribaud.
Dieser Claude hatte doch erzählt, dass Morlet an ihr ein eigenartiges Ritual durchgeführt hatte. Er hatte ihr blutige Wunden zugefügt, die Madame Ribaud ebenso gesättigt betrachtet hatte, wie ich es nun mit den Blutspritzern auf dem Laptop tat. Damals war ich so begierig darauf gewesen, zu erfahren, wie tief das Dilemma war, in dem ich wegen des Mordes an einem Hüter steckte, dass ich kein weiteres Augenmerk darauf gerichtet hatte, zu welchem Zweck das Ritual wohl gedient hatte, das Morlet an der edlen Dame vollzogen hatte. Sicher, er war ein abgrundtief schlechter Hüter gewesen, weil er eigenhändig getötet hatte und sogar einen von uns hinrichtete, bevor er sich an dem Mädchen gesättigt hatte - aber Jaqueline Marais hatte er offensichtlich leben lassen. Ich ging also davon aus, dass das Ritual nicht einfach nur eines seiner miesen Spielchen gewesen war, sondern tatsächlich einen bestimmten Zweck hatte erfüllen sollen. Der Tod hatte gesagt, ich solle Wege finden – und plötzlich tat sich ein ganz neuer Weg vor meinen Augen auf. Ich kann es nicht erklären. Es war nur ein Gefühl. Vielleicht so, wie ihr es empfindet, wenn nach einer langen Nacht die ersten zarten Sonnenstrahlen zum Vorschein kommen.
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