Verräterische Gefühle
soll, Nathaniel. Es tut mir so schrecklich leid.“
„Mir nicht!“, sagte er hart. „Auch damals nicht. Ich stand einfach nur vor meinem toten Vater und dachte, endlich ist es vorbei.“ In seiner Stimme stritten Wut, Trotz und Schuldbewusstsein miteinander.
„Fühlst du dich schuldig, weil du seinen Tod nicht bedauern kannst?“, fragte Katie sanft. „Ist es das, was dich quält? Vergiss nicht, du warst ein Kind.“ Sie schlang ihre Arme um seine Taille, aber er blieb einfach nur steif stehen.
„Er war mein Vater, und ich habe ihn gehasst. Das macht mich zu einem Monster.“
„Es lässt dich nur menschlich erscheinen, mehr nicht“, murmelte Katie rau. „Du warst ein kleiner Junge, der sich verzweifelt nach dem gesehnt hat, was jedem Kind zusteht … die Liebe seines Vaters.“
„Anfangs dachte ich, es liege am Schock und ich würde eines Tages voller Bedauern über seinen Tod aufwachen, aber bis heute hat sich an meinen Gefühlen nichts geändert.“
Katie presste ihre Lippen auf seine warme Brust, als könnte sie ihn so heilen oder wenigstens von ihrem Mitgefühl überzeugen. „Du hast keinen Grund, dich schuldig zu fühlen. Was ist mit Jacob geschehen?“
„Hoch bezahlte Anwälte in teuren Anzügen haben sich um alles gekümmert.“
„Aber damit war euer privater Horror nicht vorbei, oder? Ihr alle musstet mit dem schrecklichen Ereignis leben. Wer hat sich in der Folgezeit um euch gekümmert?“
„Zunächst Jacob, bis er eines Tages sang- und klanglos verschwunden ist.“ In Nathaniels Augen glomm ein seltsames Licht, als er sich aus Katies Umarmung löste und einen Schritt zurücktrat. „Das war der Tag, an dem ich zum zweiten Mal Angst um Annabelles Leben hatte. Für sie war er der einzige Halt in unserer instabilen Familie. Sie liebte ihn so sehr! Ein eklatanter Fehler! Wenn du große Gefühle zulässt, machst du dich verletzlich. Und sie war zu Tode getroffen, als er ging.“
Nicht nur Annabelle!
„Als du am Abend der Premiere die Bühne verlassen hast, sagtest du: ‚Ich muss unbedingt Annabelle warnen.‘ Was meintest du damit, Nathaniel? Was ist an jenem Abend passiert?“
„Jacob saß im Publikum.“
„Wie lange hast du ihn nicht gesehen?“
„Zwanzig Jahre.“
„Zwanzig Jahre?“, rief Katie überrascht. „Also nicht mehr, seit er euch damals verlassen hat?“
„Wir sind eben nicht die typische Durchschnittsfamilie“, spottete Nathaniel.
„In dem Fall ist es kein Wunder, dass du von der Bühne geflohen bist.“
„Ich habe nur an Annabelle gedacht. Sein plötzliches Auftauchen hätte sie total verstört. Ich wollte sie unbedingt sofort warnen.“
„Hast du sie inzwischen erreicht?“
„Ja, per SMS.“
„Das ist alles? Kein persönliches Gespräch?“
Nathaniel lachte hart. „Du bist unverbesserlich in deinem Optimismus. Wir sind die Wolfe-Family . Dass Annabelle mir überhaupt eine SMS zurückgeschickt hat, ist schon sehr viel für ihre Verhältnisse.“
„Aber du liebst doch deine Schwester. Und Jacob …“
„Als ich ihn in der ersten Reihe sitzen sah, hat mich eine rasende Wut gepackt. Und dieses Gefühl hat sich mit den qualvollen Erinnerungen an jene furchtbare Nacht gemischt, in der mein Vater Annabelle ausgepeitscht hat. Ich konnte und wollte auf keinen Fall mit ihm sprechen. Und daran hat sich bisher nichts geändert. All das liegt weit zurück in der Vergangenheit. Und dorthin will ich nicht zurückkehren.“
Jetzt wusste Katie auch, wer die ganze Zeit über vergeblich versuchte, Nathaniel anzurufen. „Ihr beide müsst miteinander reden.“
„Reden!“, spottete Nathaniel. „Katies Antwort auf alle Probleme der Welt …“
„Wenn du bisher wirklich nicht über jene furchtbare Nacht gesprochen hast, ist es allerhöchste Zeit“, sagte sie ernst.
„Warum, um alles in der Welt? Damit kann ich die Vergangenheit nicht ändern.“
„Aber deine Zukunft und die Gegenwart. Und dein Gefühl, was die Geschehnisse von damals angeht. Du hast Annabelle nicht im Stich gelassen. Du warst wild entschlossen, ihr zu helfen. Ich bin froh, dass du mir davon erzählt hast.“
„Warum? Weil du endlich eine lohnende Geschichte hast, die du an die Presse weitergeben kannst?“
„Du weißt, dass ich das nie tun würde.“
Nathaniel seufzte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Geh zu Bett, Katie“, sagte er müde und wandte sich ab. „Wir hätten dieses Gespräch nie führen sollen.“
Nach kurzem Zögern legte sie ihm eine Hand auf die
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