Verräterische Gefühle
Kinderglauben an das grundsätzlich Gute im Menschen zerstört?“
„Ich bin längst nicht so naiv, wie du anzunehmen scheinst“, entgegnete sie ruhig. „Aber nicht alle Menschen sind schlecht. Wo war eigentlich deine Mutter?“
„Ah, meine Mutter …“ Augenblicklich verschloss sich seine Miene wieder. „Das Einzige, was du über meine Mutter wissen musst, ist, dass sie meinen Vater geradezu verzweifelt liebte. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass er ihre Liebe erwiderte … natürlich vergeblich. Mein Vater liebte niemanden. Und er war der absolut falsche Partner für so ein sensibles, zerbrechliches Wesen wie meine Mutter. Genauso gut hätte man kostbares venezianisches Glas mit einem Vorschlaghammer bearbeiten können. Er hat sie zerbrochen, und sie … verließ uns.“
Beklommen hielt Katie den Atem an. „Dann warst du ganz allein mit deinen Vater?“
„Nicht wirklich“, antwortete er widerstrebend. „Andere englische Aristokraten sammeln Renaissance-Kunst oder Louis-XIV-Möbel. Mein Vater sammelte Frauen. Und diese Frauen hatten Kinder, an denen er allerdings nicht interessiert war.“
„Wer rettete dich damals aus dem See?“
„Mein Halbbruder Jacob, er ist neun Jahre älter als ich. Es war nicht das erste Mal, dass er mich aus dem Wasser zog. Seine Rolle innerhalb der Familie bestand darin, das Chaos, das mein Vater anrichtete, wieder in Ordnung zu bringen. Er hat das Wasser aus meinen Lungen gedrückt und mich so lange versteckt, bis mein Vater zu betrunken war, um sich noch für mich zu interessieren.“
„Nathaniel …“
„Schon gut, versuch erst gar nicht, die richtigen Worte zu finden. Dazu gibt es nichts zu sagen. Nicht einmal jemand mit deiner sonnigen Natur könnte auch nur ein gutes Haar an diesem Monster finden. Glaub mir, ich habe es jahrelang selbst versucht. Leider vergeblich.“
„Lebt dein Vater noch?“
„Nein, er starb, als ich neun war.“ Seine Stimme klirrte wie Eis. „Glaubst du, dass du das Schlimmste schon gehört hast? Dann frag mich doch einmal, wie er ums Leben gekommen ist, Katie.“
Plötzlich schienen sie sich in einem elektrischen Spannungsfeld zu befinden.
„Wie ist er gestorben?“, fragte Katie atemlos.
Einen Augenblick schien Nathaniel sich in der dunklen Erinnerung zu verlieren, dann räusperte er sich und erzählte diesen Teil seiner düsteren Vergangenheit zu Ende. „Wir waren alle aus unseren verschiedenen Internaten für die Ferien nach Hause gekommen. Meine Schwester nutzte die Abwesenheit meines Vaters, um sich aus dem Haus zu schleichen, weil sie an einer Dorfparty teilnehmen wollte. Sie war erst knapp fünfzehn, aber eine beeindruckende Schönheit und entschlossen, sich etwas zu trauen – einschließlich Minirock, Lippenstift und Mascara.“
Er machte eine Pause, und Katie wagte kaum Luft zu holen.
„Alles wäre gut ausgegangen, wenn mein Vater nicht früher als geplant von einem Ausritt zurückgekommen wäre. Er hat sie im Dorf gesehen und zu Hause mit der Reitpeitsche erwartet.“
„Er … er hat sie geschlagen?“
„Seine Absicht war es, sicherzustellen, dass kein Mann je wieder das Bedürfnis haben würde, seine Tochter auch nur anzuschauen. Aber er war zu betrunken, um seinen Jähzorn kontrollieren zu können, und schlug so brutal zu, dass er sie getötet hätte, wäre Jacob nicht eingeschritten. Ich stand die ganze Zeit daneben und habe immer nur geschrien ‚Aufhören! Aufhören!‘, doch er hat mich nicht einmal wahrgenommen.“ Nathaniel starrte auf seine zitternden Hände. „In jener Nacht habe ich gelernt, wie hilflos man sich fühlen kann.“
Mit dem Handrücken wischte sich Katie über ihr tränennasses Gesicht. „Du warst ein Kind, Nathaniel! Was hättest du tun können?“
„Wir hätten versuchen müssen, ihn daran zu hindern, Sebastian und ich“, brachte er heiser hervor. „Und gerade, als ich mir sicher war, dass er meine Schwester vor unseren Augen umbringen würde, kam Jacob ins Zimmer gestürmt.“
„Und hat ihn gestoppt?“
„Er hat ihn umgebracht.“ Nathaniel drehte den Kopf und sah Katie in die aufgerissenen Augen. Sein Blick war völlig leer. „Es war ein Unfall. Unser Vater war so betrunken, dass er gefallen ist und unglücklich mit dem Kopf auf einer Treppenstufe aufschlug. Überall war Blut … das Blut meines Vaters … Annabelles Blut … Jacob war starr vor Schock, und mein Vater war tot.“
Annabelle? Annabelle ist seine Schwester?
„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen
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