Verrat in Paris
aussieht!«
»Nein, Beryl. Wir hatten keine Wahl. Man befahl uns, die Untersuchung einzustellen.«
Sie starrte ihn an. »Wer befahl das?«
»Meine Anweisungen kamen damals direkt aus Washington, Claudes Anweisungen gingen vom französischen Premierminister aus. Also wurden sämtliche Untersuchungen sofort eingestellt.«
»Und meine Eltern wurden als Verräter hingestellt«, sagte sie. »Wie praktisch. Akte geschlossen.« Angewidert drehte sie sich um und lief aus dem Zimmer.
Er folgte ihr auf der Treppe nach unten. »Beryl! Ich habe nie daran geglaubt, dass es Bernard war!«
»Aber du hast die Schuld auf ihn abgewälzt!«
»Ich sagte doch, ich handelte auf Anweisung …«
»Und der musstest du natürlich folgen.«
»Ich wurde kurz drauf nach Washington zurückgerufen. Ich konnte den Fall nicht weiter verfolgen.«
Sie verließen das Gebäude und fanden sich im Chaos der Rue Myrha wieder. Ein Fußball flog an ihnen vorbei, kurz darauf folgte eine Gruppe zerlumpter Kinder. Beryl blieb auf dem Bürgersteig stehen. Das grelle Sonnenlicht blendete sie. Der Straßenlärm, das Kindergeschrei – sie war plötzlich orientierungslos. Sie drehte sich um und sah an dem Gebäude hoch, zum Fenster der Dachwohnung. Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen.
»Was für ein Ort, um zu sterben«, flüsterte sie. »Was für ein schrecklicher Ort …«
Sie stieg in Richards Auto und zog die Tür zu. Es war eine Erleichterung, den Lärm und das Chaos der Rue Myrha auszublenden.
Richard glitt hinters Steuer. Einen Moment saßen sie schweigend da und beobachteten die schmutzigen Kinder beim Fußballspielen.
»Ich fahre dich jetzt zurück ins Hotel«, sagte er.
»Ich will zu Claude Daumier.«
»Warum?«
»Ich will seine Version dessen hören, was passiert ist. Ich will mich versichern, dass du mir die Wahrheit sagst.«
»Das tue ich, Beryl.«
Sie drehte sich zu ihm um. Sein Blick hielt ihrem stand. Einen ehrlicheren Blick gibt es nicht, dachte sie. Was nur beweist, dass ich zu leichtgläubig bin. Sie wollte ihm gern glauben, und genau das war gefährlich. Es war diese verdammte Anziehungskraft zwischen ihnen – das Feuer der Hormone, die Erinnerung an seine Küsse –, die ihr Urteilsvermögen benebelte.
Was hat dieser Mann bloß an sich? Ich sehe ihn an, atme seinen Duft ein, und schon will ich ihn am liebsten ausziehen. Und mich dazu.
Sie schaute nach vorn und versuchte, all die unterschwelligen Botschaften zwischen ihnen zu ignorieren. »Ich will mit Daumier sprechen.«
Nach einer Weile sagte er: »In Ordnung. Wenn es dazu dient, dass du mir glaubst.«
Es stellte sich heraus, dass Daumier nicht in seinem Büro war, als Richard ihn anrief; er war gerade fortgegangen, um noch einmal mit Marie St. Pierre zu sprechen. Also fuhren sie zum Cochin-Krankenhaus, in dem Marie noch immer lag.
Schon vom anderen Ende des Korridors konnte man erkennen, welches Zimmer das von Marie war; ein halbes Dutzend Polizisten hielt vor ihrer Tür Wache. Daumier war noch nicht eingetroffen. Madame St. Pierre wurde informiert, dass Lord Lovats Nichte da war, und bat Beryl und Richard sofort herein.
Es stellte sich heraus, dass sie an diesem Nachmittag nicht die einzigen Besucher waren. Neben dem Krankenbett saßen Nina Sutherland und Helena Vane. Offensichtlich war eine kleine Teeparty im Gange, es gab Gebäck und Sandwiches, die auf einem Rollwagen vor dem Fenster standen. Die Patientin nahm allerdings nichts von den Leckereien zu sich. Sie saß aufrecht im Bett und gab das Bild einer traurigen, müde aussehenden französischen Hausfrau ab, die einen zu ihrem grauen Haar passenden grauen Bademantel trug. Ihre einzigen sichtbaren Verletzungen schienen ein blauer Fleck im Gesicht und ein paar Kratzer auf den Armen zu sein. Man sah der Frau an, dass es ihre Seele war, die am schwersten verwundet war. Jeder andere Patient wäre schon längst entlassen worden; nur ihrem Status als Gattin von St. Pierre war diese Sonderbehandlung zu verdanken.
Nina goss zwei Tassen Tee ein und reichte sie Beryl und Richard. »Seit wann sind Sie in Paris?« fragte sie.
»Jordan und ich sind gestern angekommen«, sagte Beryl. »Und Sie?«
»Wir sind zusammen mit Helena und Reggie zurückgeflogen.« Nina lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich dachte mir, ich sollte gleich heute Morgen mal bei Marie vorbeigehen und schauen, wie es ihr geht. Die Arme, ein bisschen Aufmunterung tut ihr gut.«
Ein Blick in das Gesicht von Marie St. Pierre
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