Verrat und Verführung
„Kann ich noch etwas für Euch tun?“ Wortlos schüttelte sie den Kopf und schaute zur Seite. Mit bebenden Fingern verknotete sie den Gürtel des Morgenmantels um ihre schmale Taille und verriet ihm ihre Verwirrung.
Obwohl er ihr Unbehagen spürte, war er unfähig, dieser schönen jungen Frau zu widerstehen, einer süßen, verwundbaren Unschuld im weißen Nachtgewand. Und so neigte er sich zu den glänzenden goldenen Locken. Die Augen geschlossen, atmete er ihren Duft ein, der seine Sinne zu berauschen und seinen Verstand zu lähmen drohte.
Mit jeder Faser ihres Körpers spürte sie seine Nähe, mit jeder bebenden Welle, die durch ihre Adern strömte. Während sein warmer Atem ihr Ohr streifte, blieb ihr Blick gesenkt. Fasziniert starrte sie auf die Stelle, wo sein Hemd, am Hals geöffnet, einen kleinen Teil seiner muskulösen Brust entblößte.
Nun trat er noch näher. Vorsichtig und abwehrend legte sie eine Hand auf diese beunruhigende Brust und wich zurück. Doch die lockende Berührung ließ ihr Herz noch heftiger pochen. „Ich glaube“, wisperte sie atemlos, „jetzt solltet Ihr gehen, Lord Rockley.“
„Beunruhigt Euch meine Anwesenheit, Miss Atherton?“, fragte er lächelnd.
Da schaute sie auf. Stärker denn je fühlte sie sich zu ihm hingezogen. „Ja … wenn Ihr es unbedingt wissen müsst“, gestand sie. „Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, zu so früher Morgenstunde in einem Schlafgemach mit einem Gentleman allein zu sein, den ich kaum kenne. Noch dazu, wo ich nur mein Nachtgewand trage …“
„Keine Bange, Miss Atherton.“ Weil ihre Verwirrung sein Mitleid erregte, entfernte er sich um einige Schritte. „Der Ruf einer jungen Dame gerät sehr leicht in Gefahr, und ich beabsichtige keineswegs, solche Situationen auszunutzen. Wann immer wir uns in Zukunft begegnen, werde ich mich wie ein echter Gentleman verhalten. Das verspreche ich Euch.“
Misstrauisch hob sie die Brauen. „Wie ein Gentleman, der sich schon zu viele Freiheiten nahm?“
„Nur weil ich in Eurer bezaubernden Nähe schwach wurde“, verteidigte er sich in scherzhaftem Ton. „Also müsst Ihr mir verzeihen.“
Christina lachte leise. „Je früher Ihr in Euer Zimmer zurückkehrt, desto besser. Hier fühle ich mich wirklich nicht sicher mit Euch.“
„Um Himmels willen, Miss Atherton, würde ein Mann über eine Frau herfallen, in deren Haus er ihre Gastfreundschaft genießt?“
„Wenn er verzweifelt genug ist …“, erwiderte sie unsicher.
„Verzweifelt?“ Lord Rockleys Blick schien ihr Gesicht zu liebkosen. „Ja, das bin ich. Nur zu gern würde ich tun, was meine Sinne fordern. Aber wenn ich Euer Vertrauen gewinnen will, wäre das der falsche Weg.“
„Damit habt Ihr völlig recht, Sir. In jeder Beziehung ist wechselseitiges Vertrauen überaus wichtig.“
Seine Augen verengten sich. „Sollte ich Euch nicht zu Eurer Tür begleiten?“
Mühsam verbarg sie, was sie befürchtete. Verfolgte er mit diesem Angebot einen ganz bestimmten Zweck? Was wusste er? Was hatte er gehört? Ahnte er, welche Gefahr in ihrem Zimmer lauern mochte? „Nein. Nun ist alles in Ordnung. Vielen Dank.“
„Keine Ursache, es war mir ein Vergnügen, Euch zu helfen.“ Er ging zur Tür. „Gute Nacht, Miss Atherton. Hoffentlich werdet Ihr einen erholsamen Schlaf finden.“
Sie lauschte seinen Schritten im Flur nach, die in der Richtung der Gästesuite verklangen. Dann blies sie die Kerzen aus und ging zu ihrem eigenen Gemach.
Zögernd öffnete sie die Tür, von neuer Angst erfasst. Würde Mark Buckley auf sie warten? Doch diese Sorge war unbegründet, und sie seufzte erleichtert.
Schon am frühen Morgen stand Christina auf, als der Tau das Gras benetzte und kalte Nebelschwaden zwischen den Bäumen hingen. Sie wusch sich und schlüpfte in ihre Reitkleidung. Auf leisen Sohlen eilte sie die die Treppe hinab und aus dem Haus. Ohne jemandem zu begegnen, erreichte sie den Stall und sattelte ihre lebhafte braungraue Stute. Wäre sie von jemandem beobachtet worden, hätte er den Eindruck gewonnen, sie hege irgendwelche geheimen Absichten. Doch sie wollte einfach nur einen erfrischenden Ritt unternehmen.
In dieser Gegend kannte sie jede Straße, jeden Weg. Dem Eingang zu Mark Buckleys Höhle wich sie stets geflissentlich aus, um überflüssige Begegnungen mit diesem Schurken oder seinen Spießgesellen zu vermeiden. Sie ließ ihre Stute galoppieren und genoss die frische kühle Morgenluft, die ihr ins Gesicht wehte.
Bald erreichte sie
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