Verrat und Verführung
Verwirrt drehte Christina sich um. Lord Rockley stand an der Tür und beobachtete sie. Seine Schritte hatte sie nicht gehört. Aber diese eigenartige Tatsache wurde ihr kaum bewusst, verlor sich im Aufruhr ihrer Emotionen.
„Oh, Ihr … Ihr habt mich erschreckt“, stammelte sie.
„Verzeiht mir. Offenbar wart Ihr mit Euren Gedanken woanders.“
Hastig erhob sie sich, zutiefst beschämt, weil Lord Rockley sie so spärlich bekleidet antraf, nur mit einem wallenden Morgenmantel und einem Nachthemd angetan. Noch schlimmer – eine würdevolle Flucht würde ihr nicht gelingen. Durch ihren Kopf schwirrten widersprüchliche Fragen. Was machte er hier? Wie viel wusste er? Warum war er immer noch so angezogen wie auf dem Ball? Nur der elegante Justaucorps fehlte.
„Tut mir leid, aber – Ihr findet mich …“ Ihre Stimme erstarb, und sie sprach nicht weiter, voller Angst, sie könnte etwas aussprechen, das sie später bereuen würde.
„Allem Anschein nach in einer schwierigen Lage“, vollendete er den Satz, ging zu ihr und zeigte auf William. „Diesen Abend hat er in vollen Zügen genossen, nicht wahr?“
Hilflos zuckte Christina die Achseln. Da Lord Rockley ihren Bruder in diesem Zustand erblickte, war Ehrlichkeit gewiss ratsam, weil es keine andere plausible Erklärung gab. „Ja, leider hat er zu viel getrunken. Als Ihr hierherkamt, wollte ich ihn gerade in sein Zimmer bringen.“
Was sie nicht wusste – er hatte lange genug auf der Schwelle gestanden, um die Situation richtig einzuschätzen. Weil sie mit ihrem Bruder vollauf beschäftigt gewesen war, hatte Simon die Gelegenheit genutzt und ihre schlanke Gestalt im milden Kerzenlicht ausgiebig betrachtet. Die üppigen goldenen Locken umhüllten sie mit einer Strahlkraft, die plötzlich einen sonderbaren Schmerz in seinem Herzen erzeugte. Beinahe blendete ihn ihre Schönheit, und eine beunruhigende Ahnung stieg in ihm auf. Zählte sie zu den seltenen Frauen, für die Kriege ausgefochten wurden und die ihren Eroberern kein Glück brachten?
Forschend schaute sie ihn an. „Warum haltet Ihr Euch um diese Stunde im Erdgeschoss auf? Habt Ihr einen Wunsch?“
Er schüttelte den Kopf und musterte ihre bleichen Wangen, die geweiteten Pupillen. Wovor fürchtete sie sich? „Ich schlafe niemals tief und fest. Vorhin hörte ich ein Geräusch, und ich wollte herausfinden, was hier unten geschieht.“
„Wahrscheinlich Williams Schnarchen …“
„Nein, etwas anderes. Eine zornig erhobene Stimme, gefolgt von schnellen Schritten, als wäre jemand weggelaufen.“ Bei diesen Worten beobachtete er Christina aufmerksam. Nur ganz leicht zuckte sie zusammen. Doch das genügte ihm.
Wachsende Verlegenheit trieb ihr das Blut in die Wangen. Bedrückt wich sie Lord Rockleys Blick aus und kreuzte die Arme vor ihren Brüsten. Das bange Gefühl, diesem Mann würde nichts entgehen – dazu noch das Entsetzen über Mark Buckleys Anwesenheit in ihrem Schlafgemach, das immer noch in ihr nachwirkte … Unter ihrem dünnen Nachthemd bebte sie am ganzen Körper.
„Woran … es lag, kann ich mir nicht vorstellen, Sir. Ich selber habe nichts gehört. Vielleicht … der Wind …“
„Heute Nacht ist es windstill.“
„Oder Ihr habt Euch etwas eingebildet. Das ist ein sehr altes Haus. Ständig knarrt und ächzt es. Hier ist alles in Ordnung.“
„Möglicherweise habt Ihr recht, Miss Atherton. Wieso wusstet Ihr, dass Euer Bruder nicht zu Bett gegangen war?“
„Nun, ich hatte mich zurückgezogen, ohne mich von ihm zu verabschieden. Weil ich ihn nicht nach oben gehen hörte, machte ich mir Sorgen.“
„Gerät er oft in diesen Zustand?“
„Nein – ich meine ja – manchmal. Der Alkohol beeinflusst ihn sehr schnell. Meistens bedarf es nur einer geringen Menge, um ihn zu berauschen. Ich sage ihm immer wieder, er soll nicht zu viel trinken – vor allem, wenn wir Gäste haben. Leider beachtet er meine Ermahnungen nicht.“
„Bereitet ihm irgendetwas Kummer, Miss Atherton?“
„Dazu … gibt es meines Wissens keinen Grund“, antwortete sie stockend.
Plötzlich lachte Lord Rockley. „Jetzt nicht. Aber morgen früh wird er allen Grund haben, um sich elend zu fühlen.“
„Tatsächlich?“, fragte Christina erschrocken.
„O ja, weil er glauben muss, ein Heer würde durch seinen Kopf marschieren. Warum lasst Ihr ihn nicht einfach hier?“
„Nun, ich würde es vorziehen, die Dienstboten finden ihn morgen früh nicht in dieser Verfassung. Keinesfalls möchte ich William der
Weitere Kostenlose Bücher