Verrat und Verführung
begegnete Simon ihrem geringschätzigen Blick, bevor er aufsprang. „Bald seid Ihr mich los. Das verspreche ich Euch. Aber vorher muss ich mich umschauen.“
Christina wandte sich zu den Truhen und prall gefüllten Säcken. „Was wollt Ihr mit den Sachen machen, die hier lagern?“
„Ich werde Mr Cruckshank mitteilen, was sich hier angesammelt hat, und er wird das Diebesgut den rechtmäßigen Eigentümern zurückerstatten.“ Als er sie wieder ansah, schien er zum ersten Mal zu bemerken, dass sie völlig durchnässt war. Sichtlich bestürzt betrachtete er ihr Haar, das in feuchten Strähnen herabhing, die glänzenden Regentropfen auf ihren bleichen Wangen.
Unwillkürlich empfand er Mitleid angesichts ihres beklagenswerten Zustands. „Ihr müsstet wirklich nach Hause reiten. Sonst holt Ihr Euch noch den Tod. Allmählich lässt das Gewitter nach. In meiner Satteltasche steckt ein trockener Mantel. Den würde ich Euch leihen.“
Der sanftere Klang seiner Stimme entging ihr nicht. Mit seiner Fürsorge hatte sie nicht gerechnet. Und sie wünschte auch nichts dergleichen. Endlich hatte sie ihr Herz gegen ihn verhärtet, und jetzt kümmerte er sich plötzlich um ihr Wohl. Davon ließ sie sich nicht beeindrucken. Entschlossen dachte sie an die unverschämten Beleidigungen und starrte ihn rebellisch an.
„Erspart mir Eure Besorgnis, Sir. Auf Euer galantes Angebot bin ich nicht angewiesen, und ich finde es sogar äußerst geschmacklos – nach allem, was Ihr mir gestern Abend an den Kopf geworfen habt.“
Prüfend schaute er sie an. „Wollt Ihr mich von Eurer Dummheit überzeugen?“
„Ob ich dumm bin oder nicht, ich werde Euren Mantel nicht tragen.“
Zunächst glaubte Christina, er würde widersprechen. Doch er zuckte nur die Achseln und wandte sich ab. „Wie Ihr meint.“
Vor Kälte zitternd, sah sie ihn durch die Höhle schlendern. In nachdenklichem Schweigen blieb er immer wieder vor einzelnen Packen stehen.
Christina glaubte bereits, er hätte sie vergessen. Doch da drehte er sich abrupt zu ihr um; sein Blick schien sie durchbohren. „Gewiss fragt Ihr Euch, wo Buckley steckt. Wenn wir ihn nicht aufspüren, wird er dem Galgen vielleicht entgehen. Allerdings zweifle ich daran.“
„Das versteht Ihr nicht – niemals werdet Ihr es verstehen!“, platzte sie heraus, ehe sie sich zurückzuhalten vermochte.
„Oh, ich verstehe es nur zu gut. Aber zerbrecht Euch nicht den hübschen Kopf. Wahrscheinlich kehrt er zurück, bevor er geschnappt wird. Ebenso wie Euer Bruder, wenn der Feigling annimmt, die Luft wäre rein.“
Wütend ballte sie ihre Hände, so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. „Schon wieder geht Ihr zu weit!“, zischte sie. „Was erlaubt Ihr Euch? Wer seid Ihr überhaupt? Warum kommt Ihr hierher und beleidigt meinen Bruder und mich? Ausgerechnet Ihr, der es nicht einmal wert wäre, Williams Stiefel abzulecken. Niemals könntet Ihr ihm das Wasser reichen, denn Ihr seid ein kaltschnäuziges, hochnäsiges, herzloses Monstrum. Warum reist Ihr nicht ab und lasst uns in Ruhe?“
„Jetzt geht Ihr zu weit.“ Simon verdrehte belustigt die Augen. „Stiefel abzulecken, gehört nicht zu meinen Gewohnheiten.“
Christina rang hilflos um den letzten Rest ihrer Fassung und erkannte ihr erfolgloses Bemühen, während er zu ihr wanderte. In ihrem geschwächten Zustand fand sie seine Nähe bedrohlich. Eine Zeit lang musterten sie einander wortlos, der ehemalige Soldat und die vornehme junge Dame. Und obwohl keiner von beiden seine Würde oder die unausgesprochene Feindschaft missachtete, wirkte die wechselseitige Anziehungskraft fast greifbar.
Irgendwie gewann Christina den Eindruck, sie würde in einen Abgrund stürzen. Nun stand Simon ganz dicht vor ihr. Sie hob die Hände, um ihn wegzuschieben, und plötzlich brach die Wahrheit über sie herein wie ein kalter Sturm. Diesen verabscheuenswerten, attraktiven Mann hasste sie, und zugleich begehrte – und liebte sie ihn. So viele widersprüchliche Gefühle schwirrten in ihr durcheinander, und jedes rang um die Vorherrschaft.
Die ganze Nacht hatte sie sich eingeredet, sie müsse ihn vergessen, ihn ein für alle Mal aus ihren Gedanken verscheuchen. Aber jetzt, wo sie ihn anstarrte, erschien er ihr begehrenswerter denn je, und der Wunsch, ihm noch näher zu sein, überwältigte sie beinahe.
Plötzlich zog er sie fest an sich und hob ihr Kinn. Verlangen und Zorn erhitzten ihr Blut. „Würdet Ihr mich bitte loslassen?“
„Warum?“,
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