Verraten
würden sie mich kriegen. Sie haben mich sogar mitten in Südfrankreich aufgespürt.«
»Was ist denn eigentlich genau geschehen?«
Er dachte nach. Sah wie in einem Zeitraffer die Morde an Hase und Johnny vor Augen. An den beiden älteren Kerlen. Die Liquidation der Auftragskiller im Verdon. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Das würde er ihr nicht erzählen. Sie hatte vorerst genug zu verarbeiten.
»Die Sache ist die«, begann er. »Bei dem letzten Überfall hat mich jemand erkannt, und das Problem ist, dass ich nicht weiß, wer. Ein paar Tage bevor ich neulich zu dir gekommen bin, habe ich einen Schlag auf den Kopf gekriegt und war eine Zeit lang bewusstlos. Ich wurde eingesperrt, konnte aber entkommen. Alle, die an diesem Abend dabei waren, haben mein Gesicht gesehen. Aber nur einer ist davongekommen. Mir entwischt.«
Er ignorierte ihren entsetzten Gesichtsausdruck und fuhr fort: »Also kann es nur dieser Kerl gewesen sein. Er hat sie auf meine Spur gebracht. Und das Einzige, das ich von dem Kerl weiß, ist, dass er groß sein muss. Mindestens genauso groß wie ich, oder größer. Er kann Russe sein, aber ebenso gut auch Niederländer oder Deutscher. Kurzum, es könnte jeder sein. Jemand, der mich schon vorher kannte und mich dort wiedererkannt hat, oder jemand, der mich in den Tagen nach dem Überfall und bevor ich nach Frankreich gefahren bin irgendwo gesehen hat und mir nach Hause gefolgt ist. Irgendwie so muss es gewesen sein.«
»Hast du irgendeine Idee, wo du suchen sollst?«
»Ja. Aber ich weiß bisher noch zu wenig über diesen Verein. Also werde ich zunächst ziemlich viel Zeit in Erkundigungen investieren.«
»Und das bedeutet?«
»Dass ich versuche, mir ein Bild von der Organisation zu machen. Versuche, herauszufinden, ob meine Vermutungen zutreffen. Und dann werde ich herausfinden müssen, wer dort das Sagen hat. Und ob es einen oder mehrere Bosse gibt. Und an die muss ich herankommen. Aber das kann gut eine Woche dauern, vielleicht auch zwei.«
»Und dann, Sil? Wenn du weißt, wer sie sind?«
Er antwortete nicht. Ihr lief ein kalter Schauder über den Rücken. »Über wie viele Leute reden wir?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Vielleicht zwei. Vielleicht auch mehr. Aber das muss ich noch prüfen. Jetzt, wo du in Sicherheit bist, will ich so schnell wie möglich damit anfangen. Heute Abend noch. Und ich möchte, dass du in der Zwischenzeit hierbleibst.«
»Hier?«
Er nickte. »Ja. Solange es nötig ist. Hier bist du sicher.«
Sie schaute sich um. Der Gedanke, hier in diesem ekelhaften Loch hocken zu müssen, behagte ihr überhaupt nicht. Und wer weiß, ob er wieder zurückkehrte?
»Ich möchte lieber nach Hause, Sil. Hier will ich nicht bleiben.«
»Das verstehe ich, Susan, aber es geht nicht. Wenn sie gut sind, und sie sind gut, dann wissen sie von dir. Und dann wissen sie auch, wo du wohnst.«
»Warum sind sie dann noch nicht bei mir gewesen? Du hast doch gesagt, dass du schon seit vier Tagen hier bist.«
»Wahrscheinlich wissen sie noch nicht mal, dass ich entkommen bin. Davon gehe ich aus. Verstehst du nicht, mit wem wir es zu tun haben, Susan? Diese Leute gehen über Leichen. Ich habe ihnen ziemlich viel Geld abgeknöpft. Sie sind stinkesauer und wollen mich kriegen. Du bist mein einziger Schwachpunkt. Und ich wage gar nicht daran zu denken, was sie mit dir anstellen, falls sie dich erwischen.«
Sie schaute ihn erschrocken an, als würde ihr jetzt erst klar, dass sie in Lebensgefahr schwebte.
Er drückte seine Zigarette aus und stand vom Bett auf.
»Sil«, sagte sie, als er sich von ihr wegdrehte. »Ich meine das ernst. Hier will ich nicht bleiben. Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben!«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht.«
Er ging unter die Dusche. Sie hörte das Wasser plätschern und feuchter Dunst wallte ins Zimmer. Sie umklammerte das Kissen und drehte sich auf die andere Seite. Starrte die schmutzigen Gardinen an. Versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, hier allein zu sein. Wie lange hatte Sil gesagt? Wochen? Das würde sie nicht überleben. Die Untätigkeit würde sie verrückt machen. Und die Angst, dass er nicht mehr zurückkäme.
Sie hörte, wie er den Hahn zudrehte. Er kam zu ihr ins Zimmer, noch dampfend warm vom Duschen. Er trocknete sich ab und blickte zu ihr hinunter.
»Es gibt doch noch eine andere Möglichkeit«, sagte er. Drei Stunden später saßen sie schweigend nebeneinander in einem gemieteten blauen Opel Corsa.
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