Verraten
man derzeit wissenschaftlich nachweisen konnte. Sie glaubte, dass in den grauen Zellen praktisch alles gespeichert wurde, was man je gelesen oder gehört hatte, und dass der Verstand wie eine Art Rumpelkammer funktionierte, die im Laufe des Älterwerdens immer voller wurde und in der alles durcheinander auf einem Haufen lag. Dann und wann öffnete sich jedoch ein Zugang dazu, manchmal gerade am richtigen Ort und zur richtigen Zeit.
Was man lieb hat, muss man freilassen.
Plötzlich wurde ihr das alles zu viel. Sie fing herzzerreißend an zu weinen. Sil nahm sie in die Arme und zog sie auf seinen Schoß. Wie ein Kind klammerte sie sich an ihn, ließ sich hätscheln und wiegen und sich sanft über den Rücken streicheln. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, küsste ihre Augenlider. Wischte ihre Tränen weg. Betrachtete ihr Gesicht, an dem feuchte Haarsträhnen klebten und aus dem ihn zwei Augen, die inzwischen ebenso gerötet waren wie seine, verwirrt anblickten.
»Sil Maier, du bist völlig übergeschnappt.«
23
Durch die Gardinen fiel fahles Licht herein und kündigte auf trostlose Weise den Morgen an. In der Ferne hörte Susan den Verkehr rauschen. Neben ihr atmete Sil tief und regelmäßig. Sie drehte sich zu ihm um. Er lag auf dem Rücken, die Hände im Nacken gefaltet, und starrte an die Decke.
»Du bist ja wach«, sagte er.
Sie stützte sich auf die Ellbogen. Sie merkte, dass ihre Augen noch vom Weinen geschwollen waren, und fühlte sich geschwächt, als habe sie drei Wochen lang Fieber gehabt und dürfe heute zum ersten Mal wieder aufstehen.
»Wie lange machst du das schon?«, fragte sie.
»Ungefähr seit drei Jahren.«
»Warum bist du bisher nie erwischt worden?«
»Na ja, andere Leute, die jenseits der Legalität agieren, bewegen sich eben innerhalb bestimmter Kreise. Da findet sich immer irgendjemand, der unter Druck zusammenbricht und dich verpfeift. Und es gibt immer irgendeinen Anhaltspunkt, von wo aus man dich suchen kann und dich irgendwann zwangsläufig findet. Einen Waffenlieferanten oder jemanden, mit dem man gelegentlich zusammenarbeitet. Ich arbeite allein, deshalb wird man bei mir keinerlei Anhaltspunkt finden. Ich gehe äußerst sorgfältig vor, bin sehr vorsichtig und sorge dafür, dass ich beim Observieren und bei dem eigentlichen Überfall unerkannt bleibe. Ich plane alles bis ins kleinste Detail.«
»Aber nicht akribisch genug, wie es scheint.«
Er verzog reumütig den Mund. »Es tut mir leid, Susan, dass ich dich da mit hineingezogen habe. Aber es ist bald vorbei. Ich kriege das wieder hin.«
»Wie denn?«
Er schwieg.
»Wie, Sil?«, wiederholte sie.
»Diese Typen werden mich nicht laufen lassen«, antwortete er ruhig. »Selbst wenn das Geld wieder zum Vorschein kommt. Die wollen Blut sehen. Aber ich habe keine Lust, für den Rest meines Lebens jedes Mal eine Waffe ziehen zu müssen, wenn es an der Tür klingelt. Oder jedes Mal bevor ich in mein Auto einsteige, darunter nachschauen zu müssen, ob keine Bombe dranhängt. Und ich will, dass du in Sicherheit bist. Also werde ich das Problem ein für alle Mal lösen.«
Sein Blick verhärtete sich. Unwillkürlich drängte sich ihr eine Frage auf, deren Antwort sie im Grunde schon kannte.
»Hast du schon einmal …«
»… jemanden umgebracht?«
Sie nickte.
»Wäre das schlimm für dich?«
»Kommt drauf an, wie, glaube ich«, antworte sie leise.
»Spielt das denn eine Rolle?«
Sie dachte nach. Mord blieb Mord, aber die Art und Weise machte schon einen Unterschied aus. Der Grund auch. Und wer es gewesen war.
»Ich denke schon«, sagte sie schließlich.
»Ich versuche, möglichst zu verhindern, dass jemand getötet wird«, sagte er und versuchte mit aller Macht, den abscheulichen Anblick des brennenden Paul Düring aus seinen Gedanken zu verbannen. »Und auf die Gelegenheiten, bei denen es sich nicht vermeiden ließ, bin ich wirklich nicht stolz. Kannst du damit leben?«
Sie nickte. »Ja.«
Er setzte sich hin. Schüttelte das Kissen hinter sich auf und drückte es zwischen seinen Rücken und die Wand. Nahm sich eine Zigarette aus dem Päckchen auf dem Nachtschränkchen und zündete sie an.
»Kannst du nicht einfach fortgehen?«, fragte sie, schob sich ihr Kissen unter die Brust und schlang die Arme darum. »Das alles einfach hinter dir lassen?«
»Fortgehen?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinst du das?«
»Na ja, ins Ausland?«
Er schüttelte den Kopf. »Das würde nur einen Aufschub bedeuten. Irgendwann
Weitere Kostenlose Bücher