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Verraten

Verraten

Titel: Verraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef , Berry Escober
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ein unbenutzter Waldweg, der, von Unkraut und Gras überwuchert, auf die Dauer unsichtbar wird.«
    Sie hörte ihm fasziniert zu.
    »Generation für Generation werden die Menschen gegängelt«, fuhr er fort. »Und sie merken nicht einmal, Susan, dass sie jeden Tag ein klein wenig mehr absterben. Deshalb vergehen die Tage schneller. Weil die Menschen nicht mehr intensiv leben. Weil sie sich selbst verloren haben.«
    Sie rückte näher an ihn heran. Er nahm sie in den Arm und schmiegte sein Gesicht in ihre Haare.
    »Susan«, sagte er leise. »Ich habe auch einmal geglaubt, dass ein Designersofa, eine Küche aus rostfreiem Stahl und eine Karriere wichtig wären. Gesellschaftliche Geltung. Hart arbeiten, Erfolg haben, Empfänge abklappern, der ganze Zirkus. Dass es darum ginge im Leben. Bis mir eines Tages klar wurde, was eigentlich los war. Und ich mache da nicht mehr mit. Ich weigere mich, mich abstumpfen zu lassen. Denn es ist mein Leben. Es ist das Wertvollste, was ich besitze. Und ich will dieses eine Leben, das ich habe, auch bewusst leben.«
    Sie legte die Wange an seine Brust. Fühlte, wie sein Herz klopfte. Langsam und kräftig. Sie blieb minutenlang so liegen, lauschte seinem Herzschlag, konnte kein Wort hervorbringen.
    Schließlich flüsterte sie heiser: »Aber das passt nicht zusammen, Sil. Wenn du so am Leben hängst, warum schaffst du dir dann solche Probleme?«
    »Das Gefühl zu haben, dass man lebt, mit seinem ganzen Wesen, ist niemals so stark wie an der Grenze zwischen Leben und Tod. Das hast du doch eben am eigenen Leib gespürt. Man fühlt den Adrenalinstoß im ganzen Körper, das Blut, wie es durch sämtliche Adern fließt, alles erlebt man so viel intensiver. Das ist es, was mich an diese Grenzen treibt. Atmen allein ist nicht genug. Ich will mit jeder Faser meines Körpers spüren, dass ich lebe!«
    »Auch wenn das deinen Tod bedeutet?«
    Er setzte sich auf und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. Streichelte ihre Wangen mit den Daumen.
    »Wenn dein Leben wie ein Film im Zeitraffer an dir vorbeizieht, Susan, dann bist du schon tot. Ich weiß, wie das ist. Aber ich weiß auch, wie anders es sein kann … Ich will nicht mehr zurück. Verstehst du das?«
    Sie hatte ihn noch nie so ernsthaft erlebt.
    »Ja«, antwortete sie leise.
    Sie verstand ihn. Aber sie wusste nicht, ob sie mit dem Wissen leben konnte, dass der einzige Mann, an den sie sich gebunden fühlte, absichtlich riskierte, einen frühen Tod zu sterben.
    Er schien ihre Gedanken zu lesen.
    »Vorhin hast du Angst gehabt«, sagte er. »Ich auch. Ich hatte furchtbare Angst davor, dass du weggehen würdest und mich nie mehr wiedersehen wolltest. Dass du mir keine Chance geben würdest. Ich habe keinen anderen Ausweg gesehen. Ich musste unbedingt erreichen, dass du mir zuhörst. Alice konnte ich es nie begreiflich machen. Ich will nicht denselben Fehler noch einmal machen, Susan. Nicht mit dir.«
    In einer plötzlichen Aufwallung streichelte sie ihm über den Kopf.
    »Ich will nicht. Ich kann nicht. Verdammt nochmal.«
    Wieder nahm er ihr Gesicht in beide Hände, sodass sie ihn anschauen musste.
    »Ich will nicht unbedingt alt werden, Susan. Ich bin nicht scharf darauf, mit einem Rollator durch eine altengerechte Wohnung zu schlurfen und die Vögel mit Brotkrumen zu füttern. Lieber erschieße ich mich. Du wirst also wahrscheinlich nicht gemeinsam mit mir alt werden. Sollte ich dir das jemals versprechen, dann aus reinem Egoismus, um dich an mich zu binden. Aber es wäre eine Lüge. Und wenn du mit diesem Gedanken nicht leben kannst, darfst du nicht bei mir bleiben und hoffen, dass ich meine Meinung ändere, denn das wird nicht geschehen. In dem Fall musst du gehen. In dem Fall musst du an dich selbst denken.«
    Er schwieg für einen Moment. Holte tief Luft. Schaute sie gequält an. »Aber noch sind wir keine achtzig, Susan. Noch lange nicht. Ich habe drei Tage lang in diesem Stinkloch gesessen und bin fast durchgedreht bei der Vorstellung, dass sie dich vielleicht schon gefunden hätten. Ich habe dich in einer Tour angerufen. Ich bin vor Angst schier verrückt geworden. Mir wurde klar, dass ich dich liebe, mehr als irgendjemanden sonst auf der Welt, und ich wusste auf einmal, dass ich dich nicht verlieren will, Susan. Ich habe viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ich habe mir vorgestellt, du wärst hier, gesund und munter, und wie ich dir von mir erzählte und wie du darauf reagieren würdest. Ich hatte Angst, dass du mich danach nie mehr

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