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Verraten

Verraten

Titel: Verraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef , Berry Escober
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wiedersehen wolltest, dass du nicht akzeptieren könntest, was ich tue. Und in dem Moment wurde mir klar, dass du für mich wichtiger bist als alles andere und ich die guten Jahre mit dir teilen will. Und wenn das bedeuten würde, damit aufzuhören, diesen Typen hin und wieder einen Besuch abzustatten, dann würde ich es tun.«
    Susan schluckte. Alt und gebrechlich zu sein war eine abstrakte Vorstellung, es lag noch so fern in der Zukunft. Sie lebte im Hier und Jetzt, in der Gegenwart. Und die Vorstellung, dass er sich mutwillig in lebensgefährliche Situationen begab, vielleicht irgendwo verblutete, während sie gerade fotografierte, war womöglich noch surrealer.
    Sie schüttelte den Kopf.
    Es spielte keine Rolle, was sie wollte. Es war egal.
    Ihr war klar, dass sie ihn nicht darum bitten konnte, aufzuhören. Sie würde ihn damit zu einem Leben verurteilen, in dem er sich eingesperrt fühlen würde wie ein Tiger in einem zu kleinen Zookäfig, der ziellos hin- und herlief und jeden Tag ein wenig mehr abstumpfte, bis schließlich nichts mehr von ihm übrig blieb.
    Plötzlich fiel ihr eine Geschichte ein, die ihr ihre Mutter früher manchmal vor dem Schlafengehen erzählt hatte. Die Geschichte begann immer an einem sonnigen Tag, an dem ein Mädchen einen verletzten Vogel fand. Sie setzte den Vogel in einen Käfig und versorgte ihn hingebungsvoll. Dank ihrer Fürsorge und Aufmerksamkeit ging es dem Tier von Tag zu Tag ein bisschen besser. Eines Tages war der Vogel wieder kerngesund, und es wurde Zeit, ihm die Freiheit zu geben. Aber das Mädchen hatte den Vogel so lieb gewonnen, dass sie es nicht übers Herz brachte, ihn fliegen zu lassen. Sie hatte zu große Angst davor, dass sie ihren kleinen Freund nie wiedersehen würde, dass er davonflöge in die weite Welt und sie vergäße. Deshalb kaufte sie einen größeren, schöneren Käfig für ihn, fütterte ihn mit den schönsten Leckerbissen und leistete ihm jeden Tag Gesellschaft. Doch eines Tages, als das Mädchen aus der Schule kam und nach ihrem Vogel sah, war ihr Liebling tot, das Körperchen zwischen den Gitterstäben zerquetscht. In dem Versuch, sich aus dem Käfig zu befreien, hatte sich das Tier selbst getötet.
    Es war keine schöne Geschichte und sie ähnelte in keiner Weise den Geschichten und Märchen, die die Mütter ihrer Freundinnen vor dem Schlafengehen erzählten. Die gingen immer gut aus.
    Aber irgendwie erzählte ihre Mutter die Geschichte stets so lebendig, dass sie immer aufmerksam zuhörte und sich jedes Mal wieder über die Gedankenlosigkeit des Mädchens ärgerte. Ganz selten einmal, wenn sie sie sehr eindringlich darum bat, erzählte ihre Mutter eine andere Version, bei der das Mädchen den Vogel doch noch freiließ. Nach vielen Irrwegen, Jahre später, saß das Tier dann eines Tages zwitschernd vor ihrem Schlafzimmerfenster und blieb aus freiem Willen bei ihr. Allerdings nicht in einem Käfig, sondern im Garten.
    Erst viele Jahre nach dem Verschwinden ihrer Mutter hatte Susan begriffen, dass es in der scheußlichen Gutenachtgeschichte gar nicht um einen Vogel gegangen war.
    Zwei Wochen vor Susans fünfzehntem Geburtstag war ihre Mutter plötzlich spurlos verschwunden. Weder Susan noch ihr Vater noch die Polizei noch die Bewohner der Nachbarschaft hatten irgendeine Ahnung, wo sie hätte sein können. Oder ob ihr vielleicht etwas zugestoßen war. Und sie war nie wieder zurückgekehrt, anders als der Vogel in ihrer Geschichte. Im Laufe der Zeit hatte Susan das Verschwinden ihrer Mutter als unabänderliche Tatsache hingenommen und aufgehört, überall nach einer Frau Ausschau zu halten, die ihrer Mutter ähnelte und ungefähr in dem Alter war, in dem sie jetzt sein musste.
    »Was du lieb hast, Susan, das musst du freilassen.«
    Sie hörte die warme, beruhigende Stimme ihrer Mutter so deutlich im Ohr, als säße sie neben ihr, hier in diesem Raum, in Fleisch und Blut. Susan erschauerte.
    Sie glaubte nicht an Geister. Und auch nicht an einen Gott. Weder an Reinkarnation noch an Astrologie noch an ein vorherbestimmtes Schicksal oder was auch immer. Sie glaubte fest an die Gesetze der Biologie, Chemie und Physik, an die chemischen Reaktionen von Substanzen im menschlichen Körper und dass diese das Denken und Handeln bestimmten. Sie glaubte, dass die heutige Wissenschaft einfach noch nicht so weit war, das menschliche Gehirn und dessen Möglichkeiten vollständig zu ergründen. Sie glaubte, der menschliche Geist sei zu wesentlich mehr im Stande, als

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