Verraten
deine Tür verschlossen sein, klingle ich einfach.«
Sie lächelte. Er besaß Humor. Ihr neuer Nachbar, der Masseur oder Physiotherapeut, erwies sich als netter Unterhalter. Man konnte es schlimmer treffen mit seinen Nachbarn.
»Und wie steht’s mit dir?«, fragte er. »Auch geschieden?«
Sie nickte.
»Schon lange her, in einem anderen Leben. Aber es war nicht schlimm. Nicht so wie bei dir. Wir haben keine Kinder. Und keiner von uns beiden hatte jemand anderen. Wir passten einfach nicht zusammen. Auch das kommt vor. Wir treffen uns noch hin und wieder, aber recht selten. Er hat inzwischen eine Frau gefunden, die besser zu ihm passt. Häuschen, Garten, Hund, das liegt ihm eher. Ich bin nicht so sehr der häusliche Typ.«
Er schaute sich um. Sie folgte seinem Blick. Ein mit gelbem Stoff bezogenes Sofa aus dem Wehkamp-Katalog, Kiefernmöbel von Ikea. Preiswertes Parkett, verputzte Wände. Einige Reproduktionen von Koi-Karpfen und Vergrößerungen ihrer eigenen Werke. Darunter eine von einem verlassenen Strand in Ägypten mit zwei zusammengeklappten Sonnenschirmen, die nun seit zwei Jahren an dieser Stelle hing.
Gemütlich genug für eine Wohnung. Zu wenig persönliche Gegenstände, um ein Zuhause daraus zu machen. Sie empfand eine seltsame Hassliebe zu ihrer Geburtsstadt. Das Nachhausekommen war immer wunderbar. Aber das Fortgehen fühlte sich mindestens genauso gut an.
Sie stellte zwei blaue Becher auf den Tisch und setzte sich ihm schräg gegenüber. Masseur oder Physiotherapeut?
»Was machst du denn so beruflich?«
»Ich bin Tierarzt.«
Falsch geraten. Na ja, wenigstens der weiße Kittel stimmte.
»Interessanter Beruf«, sagte sie. »Hast du eine eigene Praxis?«
»Ja, schon seit fast sechs Jahren. Nichts Besonderes, keine voll ausgerüstete Tierklinik oder so. Aber es läuft gut. Es gibt viele kranke Hunde und Katzen. Das kommt von dem Fertigfutter. Ideal für Tierärzte.«
Sie lächelte jetzt, und er schaute sie amüsiert an.
»Findest du das lustig?«, fragte er.
»Ja, schon. Genau das, was ich im Moment brauche. Etwas zum Lachen.«
Mit einer Geste zum Telefon fragte er: »Möchtest du darüber reden?«
Er sah, wie sie traurig wurde. »Na ja, geht mich ja auch nichts an«, lenkte er rasch ein.
Sie zuckte mit den Schultern. Fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Aber sie sah keinen Sinn darin, ihm etwas über Sil zu erzählen. Wollte ihn vorerst im Ungewissen lassen.
»Vielleicht erzähle ich es dir irgendwann mal«, vertröstete sie ihn. »Bestimmt lag es an deinem Beruf, dass du so selten zu Hause warst.«
»Ja, stimmt, vor allem am Anfang. Du kennst das bestimmt. Man ist voller Elan, hat einen Haufen Geld investiert, das man wieder herausholen muss. Das Bafög muss auch abbezahlt werden. Morgens operieren, nachmittags Hausbesuche und Sprechstunden. Am frühen Abend wieder Sprechstunde und nachts Notoperationen, Kaiserschnitte, Unfallopfer, schwierige Geburten. Ich wurde zu den unmöglichsten Zeiten gerufen. Ein Notarzt für Tiere. Vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr verfügbar sein müssen ist kein Zuckerschlecken, das kannst du mir glauben.«
»Und jetzt?«
»Vor einem halben Jahr habe ich einen Kollegen mit hineingeholt, der die Routinearbeiten übernimmt.«
»Zu spät, um deine Ehe zu retten?«
Er nickte. »Aber noch rechtzeitig, um den Spaß an meinem Beruf nicht ganz zu verlieren. Nach der zehnten Kastration schleicht sich die Routine ein und bei der hundertsten ist es schon fast wie Fließbandarbeit. Es gibt zwar große, kleine und mittlere Hoden, manche Patienten sind gleich wieder auf den Beinen und andere nicht, aber letztendlich ist es immer dasselbe. Geisttötend. Deshalb konzentriere ich mich nur noch auf die interessanten Fälle. Komplizierte Brüche, lästige Allergien. Herausforderungen, bei denen ich meinen Grips benutzen muss.«
»Den Haufen Geld hast du also schon wieder raus, stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte er. »Und so viel brauche ich gar nicht. Für mich allein.«
»Musst du keine Alimente zahlen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, der neue Freund meiner Frau sorgt für sie. Er hat Geld wie Heu.«
»Tja, da bleibt für dich natürlich mehr übrig.«
Er nickte. »Ja, das ist ein ganz schöner Unterschied. Und du? Du bist Fotografin, stimmt’s?«
»Reno war wirklich sehr gesprächig für seine Verhältnisse.«
»Er war einen Abend auf ein Bier bei mir. Einen Kasten Bier, um genau zu sein. Ich konnte nicht mit ihm mithalten. Netter Junge. Er hat wirklich
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