Verraten
zitierten schockierte Angestellte einen nach dem anderen in einen gesonderten Raum und befragten sie. Sie würden überprüfen, wo Paul zum letzten Mal gesehen worden war. Wie in einem Film sah Sil vor sich, wie sie die 4Seasons durchkämmten, Kajüte für Kajüte, und jede fremde Faser und jede Fußspur sorgfältig konservierten. Fingerabdrücke würden sie nicht finden. Nicht seine jedenfalls. Die blutigen Handschuhe hatte er in einen Container auf dem Parkplatz einer großen Luxemburger Tankstelle geworfen, zusammen mit einem Teil der zerstörten Videokassetten. Beweismaterial hatte er keines hinterlassen. Das hatte er sorgsam vermieden.
Ein viel größeres Problem war aus einer ganz anderen Ecke zu erwarten, nämlich wenn es um das Motiv ging. Morde geschahen nicht aus heiterem Himmel. Geld und Eifersucht standen ganz oben auf der Liste der plausibelsten Beweggründe. Falls Paul geschäftlich keine krummen Dinger gedreht hatte, konnte Geld als Motiv größtenteils ausgeschlossen werden. Also würde sich die Polizei hauptsächlich auf die Frauen in Pauls Leben konzentrieren.
Es würde mit Fragen an Anna beginnen wie: »Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrem Mann?«, und: »Warum hat Ihr Mann an dem bewussten Abend nicht zu Hause übernachtet?« Bis hin zu Fragen wie: »Wissen Sie, ob Ihr Mann eine Affäre hatte? Und vielleicht auch, mit wem?« Der Name Alice Maier würde fallen, der ehebrecherischen Angestellten, die - so ein Zufall! - kurz zuvor bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Viel Mühe würde es nicht kosten herauszufinden, dass sie einen trauernden Ehemann hinterließ, und irgendjemand würde sich bestimmt daran erinnern, dass dieser auf der Jubiläumsparty eine Auseinandersetzung mit Paul Düring gehabt hatte.
Er war sich sicher, dass alle Spuren geradewegs zu ihm führen würden. Er passte so perfekt in das Täterprofil, als würde ein Leuchtpfeil mit der Aufschrift Mörder auf seinen Kopf zeigen.
Er überlegte und kam zu dem Schluss, dass er alles getan hatte, was er konnte. Er hatte so viele Spuren verwischt wie möglich und schon von vornherein verhindert, dass er überhaupt welche hinterließ. Von daher würde es nicht einfach sein, ihm zu beweisen, dass er es tatsächlich gewesen war - eine Grundvoraussetzung, um ihn zu verurteilen. Und sie würden ihm niemals beweisen können, dass er tatsächlich geschossen hatte. Weil es nicht zu beweisen war. Nicht, solange die HK nicht gefunden wurde. Sie lag in der Reisetasche hinten im Landcruiser, zusammen mit fünf anderen Waffen und Schachteln mit Munition. Daneben stand eine weitere Reisetasche voller Bargeld, die er kurz vor seiner Abfahrt aus dem Kriechkeller unter seinem Arbeitszimmer hervorgeholt hatte. Nein, dachte er, im Haus würden sie auch nichts Verdächtiges oder Belastendes finden.
Doch schon allein wegen des Motivs würden sie ihn in die Mangel nehmen und das Unterste zuoberst kehren. Darauf war er nicht ausreichend vorbereitet. Noch nicht. Was er jetzt erst einmal brauchte, war Luft, Platz, Zeit zum Nachdenken und um zu sich zu kommen. Um seine Batterien aufzuladen. Es war einfach zu viel geschehen. Danach würde er schon weitersehen.
Hinter Nancy veränderte sich die Landschaft, die vorher hunderte Kilometer weit von hässlichen Städten und ausgedehnten Gewerbegebieten geprägt gewesen war. Er fuhr jetzt durch einen freundlichen, dünn bevölkerten Hügellandstrich mit grünen Weiden und kleinen Baumgruppen. Hier und da grasten weiße Kühe. Die Autobahn war nur noch zweispurig, und er musste regelmäßig scharf bremsen, weil ein Lastwagenfahrer unbedingt einen Kollegen überholen wollte, nur weil der fünf Stundenkilometer langsamer fuhr. Der Tempomat wurde hier zum überflüssigen Luxus.
Sechzig Kilometer vor Dijon kam eine Avia-Tankstelle in Sicht. Es wurde Zeit zu tanken. Er vergaß nicht, bar zu zahlen. Bevor er weiterfuhr, warf er noch die Reste des widerwärtigen Video-Beweismaterials in einen übervollen Container. Die glänzenden Bänder versanken raschelnd zwischen voll geschissenen Pampers, Plastikflaschen und leeren Chipstüten.
Bei Beaune wurde die Autobahn vierspurig und der Tempomat konnte seinem rechten Fuß die Arbeit abnehmen. Links und rechts der Autobahn lagen kleine Dörfer mit Kirchtürmen in der herbstlichen Hügellandschaft, die sich in allen Schattierungen gelb, rot und braun verfärbte.
Auf dieser Strecke sah man deutlich mehr Fahrzeuge mit niederländischem oder englischem Kennzeichen.
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