Verraten
Rettungswagen und Polizei eintreffen. Er musste aufbrechen und sich so weit wie möglich von hier entfernen, bevor der Tanz so richtig losging. Er kroch aus dem Graben und verfiel in einen Laufschritt.
18
»Ich weiß, es ist ziemlich kurzfristig, Susan, aber der Fotograf, den wir mit Robert zusammen losschicken wollten, musste mit einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus.«
Susan lehnte an der Wand und drehte die gewundene Telefonschnur zwischen den Fingern.
»Wann geht’s los?«, hörte sie sich fragen.
»Im Prinzip morgen früh. Robert meinte, er würde etwa fünf, sechs Tage brauchen.«
Sie dachte nach. Norwegen. Da war es kalt um diese Zeit. Soweit sie sich erinnern konnte, lag in Norwegen sieben Monate im Jahr Schnee.
Die Fotografin in ihr legte automatisch eine Liste der Materialien an, die sie bei diesen Witterungsbedingungen brauchen würde. Filme mit unterschiedlicher Lichtempfindlichkeit, weil es an einem Tag düster und grau sein konnte, aber man schon am nächsten Tag oder nur wenige Stunden später mit einem strahlend blauen Himmel und blendend weißer Umgebung rechnen musste. Und sie brauchte zwei Kameras, für jede Lichtempfindlichkeit eine, denn nichts war so unökonomisch und nervtötend, wie halb belichtete Filme auswechseln zu müssen, weil einen die plötzlich veränderten Lichtverhältnisse dazu zwangen. Zusätzliche Batterien waren kein überflüssiger Luxus, auch für die Blitzgeräte. Und sie brauchte einen Reflexionsschirm, um die harten Schatten abzumildern. Ihr alter, faltbarer Schirm hatte in Australien den Geist aufgegeben, und sie war noch nicht dazu gekommen, einen neuen zu bestellen. Vielleicht konnte sie heute noch einen auftreiben. Ansonsten gab es bestimmt in Oslo ein Fachgeschäft, das einen vorrätig hatte.
»Susan, bist du noch da?«
»Ja.«
»Kann ich mit dir rechnen?«
Wieder schwieg sie einen Moment. Und wenn Sil gerade jetzt endlich so weit war, mit ihr Kontakt aufzunehmen? Wenn er mit ihr über Alice reden wollte oder über was auch immer? Wenn er sie gerade dann brauchte, wenn sie im norwegischen Hemsedal durch den Schnee pflügte, zwölf Flugstunden von ihm entfernt? Doch dann fragte eine innere Stimme zurück, wie groß wohl die Wahrscheinlichkeit wäre, dass er sich schon jetzt, so bald nach Alice’ Tod, bei ihr melden würde? Sie beschloss, ihm ihre Handynummer zu mailen. Dann wäre sie auf jeden Fall für ihn erreichbar.
»In Ordnung, Ton«, hörte sie sich zu ihrem Gesprächspartner sagen. »Ich bin ja nicht aus der Welt.«
19
Es war elf Uhr vormittags. Zu seiner Linken lag Metz. Von der erhöht verlaufenden Autobahn aus konnte Sil von der Stadt nicht mehr erkennen als ein Grau in Grau von Haus- und Fabrikdächern links und rechts der Mosel. Der Himmel war wolkenverhangen und das Wasser des Flusses von einem nuklearen Grün. Er registrierte das alles aus den Augenwinkeln heraus, ohne bewusst etwas wahrzunehmen. Gedankenverloren zündete er sich eine Zigarette an.
Heute Morgen um halb sieben war er nach Hause gekommen, die Füße voller Blasen und erfüllt von einem Gefühl bleierner Müdigkeit. Er hätte sich gern zu einem kurzen Nickerchen hingelegt, aber stattdessen hatte er rasch geduscht, seine Füße verarztet, eine Reisetasche gepackt und weitere Vorbereitungen getroffen.
Um kurz nach sieben war er aufgebrochen, in dem Wissen, dass er vorerst nicht in sein Haus zurückkehren würde. Denn ihm war klar, dass er nicht so leicht davonkäme. Paul war kein Krimineller gewesen. Die Kripo würde ermitteln, und wenn die Fahnder ihr Fach verstanden, würden sie sich wie Bluthunde auf jeden Hinweis stürzen, wie klein und unbedeutend auch immer.
Der Konferenzraum musste vollständig ausgebrannt gewesen sein, bevor die Feuerwehr feststellte, dass nicht nur das Auto in Flammen stand. Mit dem, was sie im Inneren des Gebäudes finden würden, war garantiert nicht viel anzufangen. Vielleicht würde man das Geschoss, das Paul Dürings Leben so plötzlich beendet hatte, aus einer der Wände pulen. Es musste durch den Einschlag stark verformt sein, platt geschlagen wie ein weiches Stück Blei. Das würde ihnen nicht viel nützen. Die Hülse war interessanter, aber die würden sie nicht finden, weil sie zusammen mit vielen Litern Wasser kurz hinter der Grenze bei Maastricht in einer öffentlichen Toilette verschwunden war.
Vielleicht schnüffelten jetzt schon zwei Dutzend Kripobeamte in den Papieren der Firma herum, telefonierten mit Geldgebern,
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