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Verraten

Verraten

Titel: Verraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef , Berry Escober
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schließlich in Port Grimaud an, einem relativ jungen, venezianisch anmutenden Küstendorf.
    Er bog in eine breite, hufeisenförmige Allee ein, stellte sein Auto in einer Parktasche vor dem Tennisplatz ab und stieg aus. Jetzt erst merkte er, wie müde er wirklich war. Ihm zitterten die Beine, sein Magen fühlte sich trotz der Mahlzeit vor wenigen Stunden leer an, und er hatte bohrende Kopfschmerzen.
    Er holte die Reisetaschen aus dem Auto und betrat unter einem verputzten, mit Wein bewachsenen Torbogen hindurch einen hellrosafarbenen Apartmentkomplex. Er stieg drei Treppen hinauf, ging durch bis zur letzten Tür auf der Balkongalerie und zog den Schlüsselring mit den beiden brandneuen Schlüsseln aus seiner Jeans. Einer der Schlüssel passte.
    In der Wohnung war es stockdunkel, woraus er schloss, dass die Rollläden vor den Glasschiebetüren heruntergelassen waren. Der Lichtschalter im Flur funktionierte nicht. Er lächelte. Das Apartment war also nicht vermietet, was bedeutete, dass er es mindestens bis kommenden Samstag für sich allein hatte.
    Der Besitzer dieser Ferienwohnung, ein niederländischer Rentner, vermietete das beengte Zweizimmerapartment höchstens sechs Wochen im Jahr, nutzte es selbst nur etwa vierzehn Tage und ließ es während der übrigen Zeit leer stehen.
    Er war letztes Jahr hier gewesen, zusammen mit Alice. Da er die meiste Zeit mit Lauftraining am Strand oder in den Bergen verbracht hatte, hatte er für Alice im Dorf Schlüssel nachmachen lassen. Nach ihrer Rückkehr hatte er vergessen, dem Wohnungsbesitzer die zusätzlichen Schlüssel auszuhändigen. Erst heute Morgen hatte er wieder an sie gedacht und sie im Seitenfach eines Koffers von Alice gefunden. Im Dunkeln durchquerte er den Flur, öffnete eine Klappe in der Wand, leuchtete mit seinem Zippo in den Sicherungskasten hinein und legte den Hauptschalter um. Prompt sprang das Licht im Flur an. Er blickte sich um. Dieselbe helle Einrichtung, das weiße Sofa, Weichholzschränke. Die Rollläden vor den Glasschiebetüren zum Balkon, von wo aus man auf die schmalen Kanäle mit den Vergnügungsyachten blickte, waren geschlossen. Er hielt es für ratsam, es dabei zu belassen.
    Er ging noch einmal hinunter, öffnete mit dem anderen Schlüssel die kleine Garage, fuhr sein Auto hinein und war nach fünf Minuten wieder oben. Es gab nur ein Schlafzimmer mit zwei getrennten Betten. Er streckte sich auf der nächstbesten kahlen Matratze aus und schloss die Augen.

20
     
    Sie saßen vornübergeneigt und mit hochgezogenen Schultern in einem Kellerraum an einem Resopaltisch, der braune Spuren von ausgedrückten Zigarettenkippen aufwies. Zwei drahtige Männer von mittlerer Statur. Ihre Augen blickten ausdruckslos und desinteressiert. Auf ihren Köpfen lichtete sich das Haar, und ihre Gesichtshaut war bleich, fast aschfahl. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Zwillingsbrüder. Sie schlürften von ihrem schwarzen Kaffee und aßen ein Brötchen, in einem Tempo, als könne es ihnen jeden Moment aus der Hand gerissen werden. Eine Angewohnheit aus früheren Zeiten.
    Sie wechselten kein Wort miteinander, aber das war auch gar nicht nötig. Sie hatten ihr ganzes Leben zusammen verbracht, aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Norden Russlands, von der Regierung vergessen, ein blinder Fleck für den Rest der Welt. Solange sie sich zurückerinnern konnten, hatte ein verrosteter alter Traktor auf dem Hof ihres Vaters gestanden. Er war vergammelt, weil kein Geld da war für Ersatzteile. Dieser Traktor war ihr einziges Spielzeug gewesen, damals, als sie noch erwartungsvoll und voller Vertrauen in die Zukunft geblickt hatten, als es in den kurzen Sommern nicht an Nahrung gemangelt hatte und noch nicht diese höllische Kälte durch das Land gezogen war, die nach und nach durch jede Ritze ihres Elternhauses drang.
    Sie dachten nur noch selten an früher. Und sie sprachen noch seltener darüber. Sie hatten mit angesehen, wie ihr Vater aus Mangel an funktionierenden Maschinen jahrein, jahraus mit primitivsten Mitteln das unfruchtbare Land bearbeitet hatte, bis er mit achtunddreißig genauso ausgelaugt war wie der Boden. Und er darauf tot umfiel.
    Als er starb, waren sie so weit, dass sie keine Wut mehr verspürten, keine Ohnmacht und keine Trauer. Nur noch den eisernen Willen zu überleben. Mit sechzehn Jahren zogen sie fort aus ihrem Dorf und gingen zum Militär. Sie erwiesen sich als intelligent und gehörten auch körperlich zu den Besten. Schon bald wurden sie zu

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