Verraten
Vermutlich waren die Leute auf dem Weg zu ihren Ferienhäusern hier in der Gegend oder ein paar Kilometer weiter in der Auvergne oder in der Ardèche. Vielleicht befanden sie sich aber auch nur auf der Durchreise zur spanischen Costa Brava, einem mindestens ebenso populären Zufluchtsort für jene Nordeuropäer, die sich einfach nicht an den grauen Himmel und die feuchte, klamme Atmosphäre gewöhnen konnten, die die ewigen Regenfälle mit sich brachten.
Er warf einen Blick auf das Display des Navigationssystems. Noch 565 Kilometer. Die Strecke kam ihm unendlich vor. Der Bordcomputer zeigte sechzehn Grad Außentemperatur an. Sechs Grad mehr als heute Morgen in Zeist. Er gähnte und schaltete den CD-Player ein. Suchte eine alte CD von Metallica heraus und drehte die Lautstärke auf. Er musste wach bleiben.
Bei Villefranche-sur-Saône, als sich Enter sandman zum zweiten Mal wiederholte, reihte er sich in die Schlange vor der Mautstation ein. Aus alter Gewohnheit zog er die Kreditkarte aus dem Portemonnaie, besann sich aber rechtzeitig, legte den Rückwärtsgang ein und schloss sich an die Reihe vor dem Bargeldschalter an. Er fragte sich jetzt auch, ob man ihn womöglich über sein Handy orten könnte. Er war sich nicht sicher, aber vorsichtshalber schaltete er den Apparat aus, bevor er seine Fahrt fortsetzte.
Er dachte zurück an Paul. Sah wieder vor sich, wie die Flammen sein Haar versengten und an seiner Kleidung fraßen, wie Paul nach und nach lichterloh brannte wie eine menschliche Fackel und was für ein Übelkeit erregender Geruch von ihm ausgegangen war. Er würde für den Rest seines Lebens nie wieder grillen können, ohne dass ihm dabei schlecht wurde. Aber er konnte wenigstens noch grillen. Paul nicht mehr.
Als er von zu Hause aufgebrochen war, hatte er fest vorgehabt, Paul zu ermorden. In seinem Kopf war nur noch Platz für Rachegedanken gewesen. Noch im Wald, als Paul mit dem viel zu kleinen Spaten sein eigenes Grab aushob, war er nicht von seinem Plan abgewichen. Zweifel waren ihm erst bei Programs4You gekommen , als Paul ihn mit diesem leeren, toten Blick angesehen hatte. Da hatte er beschlossen, ihn gehen zu lassen, unter grimmigen Drohungen, die Paul zweifellos ernst genommen hätte. Aber es war anders abgelaufen.
Vor allem war es ausgesprochen schlecht für Paul abgelaufen.
Vor ihm leuchteten die Bremslichter eines Lkws auf, und er ging vom Gas. Er fuhr auf der A 46, einer zweispurigen Autobahn, die parallel zur Rhône in Richtung Marseille verlief. Der gesamte Verkehr nach Süden presste sich durch diese enge Verkehrsader, sodass der Tacho des Landcruisers die ganze Zeit kaum über achtzig Stundenkilometer anzeigte.
Er blickte nach rechts und links und sah, dass sich die Landschaft erneut verändert hatte und jetzt einen südlicheren Charakter besaß. Nadelbäume mit den typischen breiten, ausladenden Kronen und kompakte, säulenförmige Koniferen. Hießen die nicht Zypressen? Hier und da lagen verstreut einzelne lang gestreckte Häuser mit orangefarben und gelb verputzten Fassaden sowie Dächern in blassem Terracotta. Die sanften Hügel waren zu mittelhohen Bergen geworden, mit eingeknickten Rücken wie liegende Rinder.
Bei Orange war die mediterrane Atmosphäre perfekt, und die Autobahn teilte sich. Die meisten Lkws entschwanden in westlicher Richtung, nach Barcelona im Norden Spaniens oder nach Bordeaux an der französischen Westküste. Ein Straßenschild zeigte die verbleibenden Kilometer bis Nizza an: 270. Nur noch wenige Stunden. Dann konnte er schlafen. Wenn alles gut ging.
Inzwischen war es vier Uhr nachmittags, und sein Magen protestierte lautstark. Er griff nach dem Päckchen Zigaretten auf dem Beifahrersitz, musste aber feststellen, dass es leer war. Er hatte, ohne es zu merken, seit heute Morgen eine ganze Packung Zigaretten geraucht.
Kurz vor Avignon tankte er noch einmal, fuhr anschließend weiter zu dem Autobahnrestaurant hinter der Tankstelle und stellte den Wagen auf einem der kleinen Parkplätze schräg vor dem Gebäude ab. Er stieg aus und schaute zum Himmel hinauf. Strahlend blau. Kein Wölkchen zu sehen. Die Temperatur war angenehm, fast schon zu hoch. Er atmete tief ein.
Der Süden.
Im Restaurant suchte er die Toilette auf. Bestellte anschließend an der Theke einen Café au lait und ein Steak haché. Die französische Version eines Hamburgers. Er setzte sich mit seinem Tablett ans Fenster, sodass er sein Auto im Blick behalten konnte. Der Inhalt war zu wertvoll; er
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