Verraten
Landcruisers und fuhr auf der Küstenstraße zurück zu dem Apartmentkomplex in Port Grimaud. Während der ganzen Fahrt schaute er immer wieder in den Rückspiegel, doch es war nichts Außergewöhnliches oder Auffälliges zu sehen. Wahrscheinlich hatte er es sich nur eingebildet.
In der Wohnung zog er seine Bergschuhe, eine Jeans und ein schwarzes, langärmeliges T-Shirt an. Er warf einen Blick auf die Reisetasche, in der sich seine HK befand. Zögerte. Beschloss, dass ein wenig Paranoia in seiner Situation nicht schaden konnte, legte das Holster um und steckte die HK an ihren Platz. Er zog eine Jacke über, nahm seine Schlüssel und ging zur Tür hinaus.
Draguignan lag eine Dreiviertelstunde von Port Grimaud entfernt. Die historische Stadt wirkte viel bevölkerungsreicher als die fünfunddreißigtausend Einwohner, die sie offiziell zählte, wahrscheinlich weil sie einen großen französischen Militärstützpunkt beherbergte. Auf jeden sechsten Zivilisten kam ein Soldat in Tarnanzug, ein merkwürdiger Anblick für ein Land in Friedenszeiten. An einer Durchfahrtsstraße parkte er den Landcruiser in zweiter Reihe und kaufte in einem kleinen Supermarkt ein paar Sandwiches und einige Halbliterflaschen Mineralwasser.
Von Draguignan aus war es noch eine gute Dreiviertelstunde Fahrt auf einem asphaltierten Weg quer durch militärisches Übungsgebiet, bis er die ausgedehnte Berglandschaft der Gorges du Verdon erreichte, der europäischen Ausgabe des Grand Canyon. Eine schmale Straße schlängelte sich durch die Berge. Die Temperatur lag hier sechs Grad unter der in Port Grimaud. Die Luft wurde dünner und die Vegetation spärlicher. Majestätische Berggipfel verbargen sich in einer grauen Wolkendecke. In der letzten halben Stunde war ihm kein Mensch mehr begegnet. Er hatte den CD-Player eingeschaltet und hörte in der Enge seines Geländewagens die langsame Nummer Pretty in White von Bush. Ihn überfiel eine tiefe Melancholie. Egal. Die Stimmung passte zu seinem Vorhaben.
Sein Reiseziel lag rechts vor ihm, eingebettet zwischen einem Bergrücken und dem äußersten Zipfel eines lang gezogenen, grünen Stausees.
Das mittelalterliche Dorf Moustiers-Sainte-Marie war bekannt für sein bemaltes Keramikgeschirr, das Delfter Porzellan ähnelte. Sil fand es furchtbar kitschig, aber das spielte keine Rolle. Er war nicht hier, um sich Keramikgeschirr anzusehen.
Im Dorf war es ruhig. Ein Touristenort in der Nachsaison. Er bog auf die Zufahrtsstraße ein, fuhr über eine kleine Steinbrücke und parkte den Landcruiser ein Stück weiter an der rechten Straßenseite, vor einer hohen Bruchsteinmauer. Er stieg aus und spazierte in das Dorf hinein. Viele Läden waren geschlossen und nur wenige Menschen unterwegs.
Ein weiß gefleckter, magerer Hund mit langen, schmalen Ohren trabte dicht an ihm vorbei. Im Vorbeigehen streichelte er dem Tier achtlos über den Kopf. Der Hund lief weiter, ohne darauf zu reagieren.
Durch schmale, steile Straßen, in die kaum Sonne hineindrang, lief er über graues, glattes Pflaster bergan, bis er am Fuße einer halb verfallenen Treppe ankam. Sie führte hinauf zu einer Kapelle, die hoch oben auf dem Berg stand. Letztes Jahr hatte er versucht, die Stufen zu zählen, hatte aber unterwegs dauernd den Faden verloren. Es waren an die vierhundert Tritte und zusammen stellten sie eine ernsthafte Herausforderung dar. Die meisten Leute brauchten zwanzig Minuten oder länger, um hinaufzugelangen, falls sie nicht nach der Hälfte - oder schon früher - aufgaben.
Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie Alice sich hier letztes Jahr abgekämpft hatte. Wie sie auf dem Weg nach oben dreimal erschöpft auf einer Stufe sitzen geblieben war, mit roten Wangen und keuchend vor Anstrengung. Wie er sie gepiesackt hatte, indem er immer wieder an ihr vorbeigelaufen oder besser: -gerannt war. Er war schon zweimal oben gewesen, bevor sie außer Atem den ersten Fuß auf das Plateau vor der Kapelle setzte. Letztes Jahr hatte er es als Spaß betrachtet, wollte sie ein bisschen ärgern. Heute kam ihm sein Verhalten unglaublich kindisch vor.
Er blickte hinauf und begann mit dem Aufstieg. Das Bauwerk war irgendwann im vierzehnten Jahrhundert entstanden, und das merkte man. An manchen Stellen waren die unregelmäßigen grauen Steine locker und die breiten, tiefen Stufen abgesackt, sodass man kein ebenes Fleckchen fand, auf das man den Fuß setzen konnte, und er mehr oder weniger schräg hinauflaufen musste. Zwischendurch führte der
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