Verraten
jahrhundertealte Pfad über eine hohe Brücke, unter der ein Wasserfall rauschte.
Knapp fünfzehn Minuten später war er oben. Er drehte sich um und schaute in das Tal hinunter. Von hier aus erschien das Dorf inmitten des überwältigenden Bergpanoramas weit weg, nichtig und klein. Der eckige Kirchturm auf der Place de L’Eglise, auf dem dutzende grauer Tauben hockten, das Meer der Hausdächer mit den alten, ausgeblichenen, hell orangefarbenen Ziegeln - er konnte sie mit zwei Händen umfassen. Irgendwo links von ihm hörte er einen Wasserfall plätschern. Der Bach entsprang tiefer in den Bergen und schwoll auf seinem Weg hinunter ins Dorf zu einem reißenden, grauen Fluss an. Er floss quer durch das Dorf, unter einer steinernen Bogenbrücke hindurch und in den tiefen Stausee hinein, der von hier aus ebenfalls zu sehen war. Man hörte nur das Rauschen des Bachs, sonst war alles still. Keine Menschenseele weit und breit.
Sil drehte sich zur Kapelle um und blieb einen Moment lang so stehen. Das Bauwerk hatte Alice tief beeindruckt. Nachdem sie sich von dem Aufstieg erholt hatte, war sie hineingegangen und hatte sich auf eine Bank vor dem Altar gesetzt, ohne ein Wort zu sagen. In sich gekehrt, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Er hatte sich maßlos daran gestört und sie beinahe hinausschleifen müssen.
Jetzt war er allein hier.
Er betrat die Kapelle, die höchstens dreißig Meter lang und zehn Meter breit war und eine hohe Gewölbedecke besaß. Links und rechts standen Bänke. An den Wänden hingen Ölgemälde, Heiligenfiguren standen auf Sockeln. Am Ende des Mittelgangs befand sich eine Erhöhung mit dem rechteckigen Altar. Er ging durch bis ganz nach vorn. Seine Schritte klangen hohl und hallten von dem Gewölbe wider. Er setzte sich auf eine Bank. Auf denselben Platz, auf dem Alice letztes Jahr gesessen hatte.
Abschied nehmen von Alice.
Er wollte es hier tun. Nicht in einer Atmosphäre, die er hasste, in der spießbürgerlichen, steifen Umgebung einer Trauerhalle. Nicht gemeinsam mit hunderten anderen Leuten in Sonntagskleidern und mit ernsten Gesichtern, von denen seiner Schätzung nach neunzig Prozent nur gekommen waren, weil es sich so gehörte. Die Alice nicht einmal richtig gekannt hatten. Die nachts nicht schlechter schliefen, weil sie nicht mehr da war.
Als er heute Morgen in Port Grimaud erwacht war, war ihm diese Idee gekommen, und er war froh, dass er seinem plötzlichen Impuls nachgegeben hatte.
Er blickte sich um und betrachtete die Gemälde und die Figuren, die ihn in versteinerter Frömmigkeit anstarrten. Er war nicht gläubig. War es nie gewesen. Seine Oma, die ihn größtenteils erzogen hatte, hatte ihn jeden Sonntag in die Kirche gescheucht, aber er hatte nie etwas mit dem Gottesdienst anfangen können. Sie hatte ihn beten gelehrt, aber es hatte ihm nie etwas gegeben. Im Laufe der Jahre hatte er sich seine eigene Meinung vom Glauben gebildet. Dass es einen Gott gab, war nicht logisch, und die Welt wäre besser dran gewesen ganz ohne Religionen, egal, welche. Dieselben Gläubigen, die diese Kirche erbaut hatten, hatten noch bis weit ins siebzehnte Jahrhundert hinein scharenweise ihre Frauen abgeschlachtet, weil sie nicht spurten oder weil sie es wagten, unabhängig zu denken. Sie folterten sie, verbrannten sie bei lebendigem Leibe oder ersäuften sie. Sadismus und Frauenmord als Mittel zum Zweck, alles nur für das eine Ziel: Macht zu erlangen. Das Volk unter der Knute zu halten.
Und bis heute wurden die meisten Glaubensgemeinschaften von frustrierten Kerlen geleitet, die sich schon bei der Vorstellung in die Hosen schissen, dass Frauen genauso viel zu sagen haben sollten wie sie, und die ihre baufälligen Elfenbeintürme hartnäckig gegen das weibliche Geschlecht verteidigten.
Ja, letztes Jahr hatte er sich maßlos über Alice geärgert. Aber jetzt, da er hier allein war, in dieser stillen, friedlichen Umgebung, weit weg von der hektischen Außenwelt, begriff er endlich, warum sie hier so lange gesessen hatte.
Es lag nicht an der Kirche. Es hatte nichts mit Glauben oder Religion zu tun.
Es war die Stille. Die Ruhe. Dies war ein Ort, an dem man zu sich finden konnte. Hier zu sitzen war wie eine Form der Meditation.
Er betrachtete die Kerzen, die halb heruntergebrannt auf kleinen Altären neben dem Gang standen. Atmete den Geruch von Kerzenruß und von dem Bohnerwachs ein, mit dem die alten, glänzenden Bänke vollgesogen waren. Nahm die Atmosphäre in sich auf und spürte, wie sein
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