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Verraten

Verraten

Titel: Verraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef , Berry Escober
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ihre Sinne wieder ihre Arbeit auf, als würde sie jemand an einem Mischpult einen nach dem anderen einschalten. Gedämpfte Geräusche drangen von draußen herein. Hupende Autos in der Ferne. Regen, der gegen die Scheibe prasselte. Die Beulen der alten Bettfedern, die gegen ihren Rücken drückten. Draußen war die Dämmerung hereingebrochen. Das Hotelzimmer lag in grauen Schatten. Sie zuckte und zitterte und atmete immer noch schnell.
    Sil rollte von ihrem erhitzten Körper herunter und stützte sich auf einem Ellenbogen ab. Blickte sie forschend an. Streichelte sie.
    »Ich habe keine andere Möglichkeit mehr gesehen, es dir begreiflich zu machen«, sagte er leise.
    Ihre Stimme klang unsicher. »Es macht mir Angst, Sil.«
    »Es macht dir Angst?«
    Sie nickte fast unmerklich.
    »Du hast Angst vor deinen innersten Gefühlen, Susan?«, flüsterte er und streichelte sie dabei unablässig. »Angst davor, wie du wirklich bist?«
    Sie schaute ihn an.
    »Du hast eben die intensivsten, elementarsten Gefühle erlebt, die man nur empfinden kann. Und alle zugleich. Findest du das beängstigend? Wusstest du nicht, dass du dazu im Stande bist?«
    »Du bist zu weit gegangen«, erwiderte sie heiser. Schluckte hörbar. Ihre Kehle war wie ausgedörrt.
    »Zu weit wofür? Für wen? Für dich?« Er schüttelte den Kopf und blickte sie eindringlich an. »Nein, Susan, es ging dir keineswegs zu weit.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Das war lebensgefährlich.«
    Er hielt sie mit seinem Blick gefangen. »Ich weiß. Aber du hättest dich sonst nicht geöffnet.«
    »Das ist doch Wahnsinn!«
    Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. »Pst. Hör auf, darüber nachzudenken. Was hast du eben empfunden? Erzähl mir einfach, was du gefühlt hast.«
    Ihr traten die Tränen in die Augen. Sie fühlte sich wie zerschlagen, als sei eine Herde Elefanten über sie hinweggetrampelt. Aber es tat nicht weh. Nicht wirklich. Es fühlte sich gut an, nein, »gut« war ein viel zu schwacher Ausdruck dafür. Es war fantastisch. Ekstatisch. Das lag nicht unbedingt nur am Sex. Es ging viel tiefer als das. Viel weiter. Noch nie hatte sie sich so lebendig gefühlt.
    Sie brauchte es ihm nicht zu erklären. Er wusste es, noch bevor sie es in Worte fassen konnte. Er hatte es die ganze Zeit gewusst.
    »Erinnerst du dich noch daran«, begann er auf einmal, »wie langsam die Zeit verstrich, als du noch ein Kind warst? Ein Jahr dauerte eine Ewigkeit, ein ganzes Menschenleben. Aber sobald du älter wurdest, flogen die Wochen und Monate nur so vorüber. Schneller und schneller, sie schlüpften dir durch die Finger, ohne dass du dir dessen bewusst warst.«
    Sie nickte, ohne zu wissen, worauf er hinauswollte.
    »Weißt du auch, warum das so ist?«
    Sie schaute ihn nur an. Schüttelte den Kopf.
    »Es hängt mit deinen Gefühlen zusammen. Damit, offen für neue Erfahrungen zu sein. Sie zu fühlen, wirklich von Grund auf zu empfinden. Kinder besitzen diese Fähigkeit noch. Sie erleben alles noch ganz intensiv. Leben intensiv. Saugen das Leben in sich auf, jede Minute des Tages.«
    Jetzt wusste sie, was er meinte.
    »Dann lernen sie sich anzupassen. Von ihren Eltern, ihren Lehrern, ihrer Umwelt. Sie lernen, nicht vor anderen zu weinen. Nicht ungehörig laut zu lachen. Nicht über die Stränge zu schlagen. Sie lernen, ihre Gefühle, ihre inneren Impulse zu unterdrücken. Sich von ihnen zu distanzieren. Sie zu verdrängen. Sie distanzieren sich von dem, was sie sind und wonach sie eigentlich streben. Je älter sie werden, desto weiter entfernen sie sich von ihren Wurzeln und desto mehr erhöht sich ihre Wahrnehmungsschwelle. Und bis sie schließlich erwachsen sind, vergehen die Tage und Wochen wie im Flug.«
    Er schwieg. Blickte sie unverwandt an, wollte sichergehen, dass sie ihm zuhörte. Dass sie begriff, was er meinte.
    »Dann sind sie gefangen in ihren gesellschaftlichen Ritualen«, fuhr er fort. »Funktionieren wie Maschinen. Halten Dinge für wichtig, die gar nicht wichtig sind. Ihre Ausbildung. Ihren Beruf. Ein Haus. Besitz. Weil es sich so gehört. Weil das normal ist. Weil sie es so gelernt haben. Aber empfinden sie auch so tief in ihrem Inneren? Nein. Innerlich schreit es in ihnen. Es quengelt und nörgelt. Deshalb suchen sie unentwegt nach Antworten. In der Religion, in Büchern, Musik, Alkohol, Drogen. Aber die wirkliche Antwort finden sie nicht. Sie steckt tief in ihnen, wurde aber so lange ignoriert und geleugnet, dass die Nervenbahnen dorthin abgeschnitten sind, wie

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