Verruchte Lady
bringen ließ.
Phoebe war das schwarze Schaf der Familie. Die anderen benutzten immer ihren Verstand. Phoebe verließ sich hingegen auf ihr Gefühl. Sie las Romane, während die anderen die Börsen-berichte in The Gentleman’s Magazine studierten. Sie war leichtsinnig, wo die anderen Vorsicht walten ließen. Sie war enthusiastisch, wo die anderen Besorgnis äußerten. Sie war begeistert, wo die anderen Desinteresse oder Mißbilligung zeigten. Und natürlich war sie die Jüngste.
Das Ergebnis war, daß, abgesehen von Phoebes Mutter, die ganze Familie überfürsorglich war. Sie alle verbrachten viel Zeit damit, sich über Phoebes impulsives Wesen Sorgen zu machen. Und nach dem Kutschenunfall, bei dem ihr Bein schwer verletzt worden war, hatte die allgemeine Besorgnis noch zugenommen.
Der Unfall hatte sich ereignet, als Phoebe leichtsinnigerweise versucht hatte, einen kleinen Hund davor zu retten, von dem Fahrzeug überfahren zu werden. Am Ende hatte Phoebe und nicht der Hund unter den Rädern der Kutsche gelegen.
Der Arzt hatte Clarington mitgeteilt, daß sein jüngstes Kind nie wieder würde laufen können. Die Familie war entsetzt gewesen. Alle hatten gebangt. Alle hatten gezittert. Alle hatten versucht, die achtjährige Phoebe dazu zu bewegen, im Krankenzimmer zu bleiben.
Aber da Phoebe nun einmal Phoebe war, hatte sie sich geweigert, sich zu einer Invalidin machen zu lassen. Sie hatte den Ärzten getrotzt und heimlich Laufen geübt. Bis heute hatte sie den Schmerz der ersten zaghaften Schritte nicht vergessen. Nur ihre wilde Entschlossenheit, nicht für den Rest ihres Lebens ans Bett gefesselt zu bleiben, hatte ihr diese Anstrengung möglich gemacht. Ihre Familie hatte sich jedoch unglücklicherweise nie ganz vom Schock dieses Unfalls erholt. Für sie war er, wenn auch der bemerkenswerteste, so doch nur einer aus einer Reihe von Zwischenfällen, die bewiesen, daß Phoebe vor ihrem eigenen Leichtsinn geschützt werden mußte.
»Ich will nicht, daß Kilbourne um meine Hand anhält«, sagte Phoebe. Sie stellte ihren Fuß auf einen kleinen Schemel und massierte geistesabwesend ihr linkes Bein, das von dem morgendlichen Ausritt etwas steif war.
»Unsinn. Natürlich willst du, daß er um deine Hand anhält.« Meredith machte einen weiteren Stich. Sie war zwei Jahre älter als Phoebe, und die beiden waren vom Aussehen und Temperament her so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Meredith war blond, blauäugig und so zart wie ein Stück feinstes chinesisches Porzellan, und sie war früher so schüchtern und furchtsam gewesen, daß sie bei dem Gedanken an die intime Begegnung mit einem Mann, die sie im Ehebett erfahren würde, erzittert war.
Vor Jahren, kurz vor ihrem Debüt in der besseren Gesellschaft, hatte sie Phoebe ernsthaft anvertraut, daß sie am liebsten ins Kloster ginge, um den Anforderungen eines Ehemannes zu entgehen. Phoebe hatte ihr beigepflichtet, daß der Beitritt zu einem Orden durchaus interessant sein dürfte, solange man in einer alten Abtei lebte, die von Geistern heimgesucht wurde. Die Vorstellung, ein paar echten Gespenstern zu begegnen, war durchaus reizvoll.
Aber es war gut, daß Meredith ihrer religiösen Berufung nicht nachgekommen war, dachte Phoebe. Die Ehe hatte ihr gutgetan. Heute war Meredith eine fröhliche, zufriedene Frau, die von ihrem Mann, dem Marquis von Trowbridge, angebetet und von ihren drei wunderbaren Kindern geliebt wurde.
»Ich meine es ernst, Meredith. Ich habe nicht den Wunsch, Kilbourne zu heiraten.«
Meredith blickte auf, die kristallklaren blauen Augen vor Überraschung weit aufgerissen. »Gütiger Himmel. Was sagst du da? Er ist der vierte Kilbourne in direkter Folge. Und sein Vermögen ist mindestens so groß wie das von Trowbridge. Auf jeden Fall ist er genauso reich wie Papa. Mama ist ganz hingerissen von diesen Aussichten.«
»Ich weiß.« Phoebe nippte an ihrem Tee und starrte finster auf die herrliche gestickte Jagdszene, die an der Wand hing. »Für sie wäre es durchaus von Vorteil, wenn Kilbourne um meine Hand anhielte. Dann hätte sie noch einen Schwiegersohn, der ihr aus der Klemme helfen könnte, wenn sie beim Kartenspiel verliert.«
»Nun, wir wissen beide, daß sie kaum Papa bitten kann, ihre Ehrenschulden zu begleichen. Er würde es niemals gutheißen, daß sie spielt. Und du und ich können ihr auch nicht immer helfen. Unser Taschengeld reicht nicht, um einige ihrer Verluste auszugleichen.« Meredith seufzte. »Ich wünschte wirklich, sie würde
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