Verrückt bleiben
In der psychoanalytischen Krankheitslehre spricht man von Krankheitsgewinn.Der Mensch verliert seinen Fuß, aber umso leidenschaftlicher will er Läufer sein. Er verliert sein Gehör, aber er hört nicht auf zu komponieren. Er ist blind, aber er besteigt die Dolomiten. Frida Kahlo wäre vielleicht niemals eine so radikale Malerin geworden, wenn sie nicht krank gewesen wäre, wenn ihr nicht der sehnliche Kinderwunsch versagt geblieben wäre, wenn sie nicht der Mann, den sie liebte, betrogen hätte. Der Kummer, die Sehnsucht, die Leidenschaft, die degenerierten Knochen, der Schmerz – alles ist in ihre Bilder hineingemalt. Sie wäre anderenfalls möglicherweise eine satte, zufriedene Kindsmutter gewesen, die kocht und putzt und, wenn die Blätter fallen, nichts anderes denkt, als dass draußen Herbst wird.
Mit zwölf hatte ich einen Film über den englischen Astrophysiker Stephen Hawking gesehen. Wie ein altes Kind hing er in einem elektrischen Rollstuhl und sprach mit einer knarzigen Automatenstimme, ohne die Lippen zu bewegen. Als er noch gesund war, war er ein begabter, aber fauler Student gewesen, der lieber Bier soff und Schabernack trieb, als zu lernen. Dann erkrankte er an ALS, Amyotropher Lateralsklerose, einer fortschreitenden Lähmung des Nervensystems. Man gab ihm nur noch wenige Jahre. »Das Wissen, am Morgen gehängt zu werden, kann den Verstand ungemein schärfen«, sagt der englische Dichter Samuel Johnson. So war es wohl bei Hawking. Als er nur noch zwei Finger bewegen konnte, tippte er mit denen, als er nicht mehr schreiben konnte, begann er zu diktieren. Als er nicht mehr sprechen konnte, baute man ihm einen Sprachcomputer. Die Elektronik dafür bediente er mit seiner Wangenmuskulatur, und als auch diese ihm nicht mehr gehorchte, mit der Bewegung seiner Pupillen. So forscht er bis heute. Erst die Einschränkung hat seinen Verstand geschärft, er ist eine Geistesschönheit geworden, er lebt in seinem Kopf. Überdies ist Hawking ein Frauenschwarm. Nach seiner ersten Ehe heiratete er seine Krankenpflegerin. Von der ließ er sich 2006 scheiden, weil er sich in eine neueFrau verliebt hatte. Er ist nicht nur Master of the Universe, sondern offenbar auch Master of Brainfuck.
In dem Film »Schmetterling und Taucherglocke« von Julian Schnabel wird eine wahre Geschichte erzählt: Jean-Dominique Bauby, »Elle«-Chefredakteur, ist nach einem Schlaganfall am ganzen Körper gelähmt und kann nur noch das linke Augenlid bewegen. Mit Hilfe eines ausgeklügelten Zwinker-Systems und mit der Unterstützung geduldiger Mitarbeiter schenkt er uns, bevor er stirbt, ein ganzes Buch – seine Autobiographie.
Der Südafrikaner Oscar Pistorius war zweimal Paralympics-Weltmeister. Ein Mann, der ohne Füße geboren wurde – und was macht er? Er läuft. Ausgerechnet. Er hätte ja auch etwas mit seinen Händen machen können oder mit seinem Kopf. Aber es drängt ihn ausgerechnet in den Laufsport. Er schnallt zwei Prothesen um, er trainiert – und gewinnt. 2011 kommt Pistorius ins Halbfinale der »normalen« Leichtathletik-Weltmeisterschaft. Abgesehen von der beeindruckenden Leistung – und der von seinen Kritikern immer wieder aufgeworfenen Frage, ob Prothesen einfach besser laufen als Menschenfüße –, ist für mich die Frage interessant, ob körperliche Vollständigkeit Pistorius überhaupt herausgefordert hätte, Läufer zu werden.
Behinderung oder Krankheit kann Katalysator sein, Fokussierung, Traumerfüllungshelfer, Wunschzuspitzer. Sie kann motivieren, es allen richtig zu zeigen. Noch vor hundert Jahren wurde ein Krüppel von der Gesellschaft ausgespuckt, heute wird er Weltmeister, Finanzminister, Opernsänger oder Intendant.
Ich beschloss damals, zu überleben. »Man stirbt, oder man wird verrückt«, hatte der Arzt gesagt. Gestorben bin ich nicht, also bin ich wohl verrückt geworden. »Wenn ich hier jemals wieder rauskomme«, schwor ich mir, »dann werde ich keine Sekunde vergeuden.« Seither habe ich eine Schwäche für Menschen, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind. Sie haben, ich spreche jetzt bildlich, besonders elastische Sprunggelenke.
Von meiner Krankheit habe ich chronische Augenbeschwerden zurückbehalten. Es gab seitdem immer wieder Krankenhausaufenthalte, Augenspritzen, Operationen und die Diagnose, irgendwann zu erblinden. Ich lese wie eine Irre. Seit es mir Mühe macht, gedruckte Bücher zu lesen, bin ich auf E-Books umgestiegen. Ich will alle Bücher gelesen haben, manche mehrfach, ehe es
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