Verrückt bleiben
Sie! Schlafen Sie so, als ob niemand Ihnen zuschaute. Schlafen Sie im Bett, im Sessel, auf dem Sofa, nachts oder tagsüber, leise oder laut, kurz oder lang. Wenn Sie nicht müde sind, schlafen Sie nicht – egal, wie spät es ist. Aber wenn Sie schlafen, schlafen Sie gut!
11. Krank – na und?
SPIEGEL: Sie wuchsen auf im thüringischen Sangerhausen, waren erst tuberkulosekrank und stürzten dann als 16-Jähriger aus einem fahrenden Zug. Inwiefern hat dieser Unfall, von dem Ihnen ein Stottern blieb, Ihr späteres Leben geprägt?
Einar Schleef: Natürlich ist das ein tiefer Einschnitt, wenn man krank ist. Ich war auf den Tag genau ein Jahr im Krankenhaus. Und von all den Leuten, mit denen ich im Zimmer lag, war ich der Einzige, der überlebt hat. Alle anderen sind an ihren Verletzungen gestorben oder haben sich umgebracht.
Die britische Cellistin Jacqueline du Pré war ein Ausnahmetalent. Sie feierte schon als junge Frau Erfolge auf der ganzen Welt. Auf der Bühne schien sie eins zu werden mit dem Stradivari-Cello zwischen ihren Beinen. Sie warf sich hin und her, ihre langen blonden Haare flogen, und sie entlockte dem Instrument Töne, die fast klangen wie eine menschliche Stimme. Der Dirigent Zubin Mehta sagte einmal: »Sie spielt wie fünf Männer.« Ihr Cello bedeutete ihr alles, ohne fühlte sie sich verloren. Sie war Mitte 20, als sie Veränderungen feststellte: Die Fingerspitzen wurden manchmal taub, die Beine fühlten sich schwer an, sie sah Doppelbilder. Sie dachte erst, das sei Erschöpfung, die sie überwinden müsse. Sie nahm heiße Bäder, übte noch mehr, suchte schließlich einen Psychologen auf. Es half nichts. Die Beschwerden wurden schlimmer. Erst Jahre später stellte man fest, dass sie an Multipler Sklerose erkrankt war. Es gab keinen Ausweg, keinen Plan B. Sie hatte keine anderen Talente, auf die sie ausweichen konnte. Sie konnte ihr Cello bald nicht mehr halten, aber sie versuchte es immer wieder. Es war ihre Liebe zur Musik, die sie noch viel länger am Leben hielt, als die Ärzte berechnet hatten. Bis zu ihrem Tod mit 43 Jahren engagierte sie sich für MS-Stiftungen und unterrichtete vom Rollstuhl aus junge Musikerinnen.
Wer Krankheit nicht kennt, denkt nicht über sie nach. Nicht über die Limitationen, die sie mit sich bringt, nicht über die Weichenstellung, die Herausforderung, die sie bedeutet. Ich habe auch nie über Krankheit nachgedacht, bis ich mit 18 plötzlich selbst krank wurde. Es fing harmlos an. Erst warmein Hals entzündet, und es hieß, ich hätte Angina. Dann waren die Lymphdrüsen stark geschwollen, ein Mumps-Verdacht kam auf. Nach zwei Monaten sinnloser Behandlung mit V-Tablopen, dem Antibiotikum, das in solchen Fällen in der DDR verschrieben wurde, stellte sich heraus, dass es sich um ein Pfeiffersches Drüsenfieber handelte, eine »Knutsch-Krankheit«, wie man damals sagte. Weil die Diagnose zu spät kam, hatte ich bereits eine Komplikation, starke Kopf- und Rückenschmerzen. Vielleicht ein Rheuma-Schub, tippte die Ärztin. Es war aber eine Meningitis, eine Gehirnhautentzündung. Sie hatte bereits mein Gehirn angegriffen, eine ganz seltene Folge des Pfeifferschen Drüsenfiebers – Meningoenzephalitis.
Ich war ein Wildfang gewesen, ein rotwangiges Mädchen, das sich prügelte, das mit den Jungs Sport machen musste, das immer voller Schabernack war. Nun fand ich mich schwach und willenlos, hohläugig und bleich wieder. Das Knutschen war mir egal. Alles, was mich interessierte, war die Anzahl der kranken Zellen in meinem Hirnwasser. Stieg sie oder sank sie? Ich verbrachte lange Wochen auf der Infektionsstation, man quälte mich mit Lumbalpunktionen, Leseverbot und strenger Bettruhe, während meine Klasse auf Abi-Reise nach Leningrad fuhr und sich mein Freund eine andere suchte.
Wer krank wird, hat zwei Möglichkeiten. Entweder, er entscheidet sich für ein Leben als Patient. Damit durchschreitet er eine Tür, trennt sich für immer von den Gesunden, macht die Krankheit zum Zentrum seines Lebens und lebt nur für sie und von ihr. Er kann dies nicht mehr und das nicht mehr, es zwickt ihn hier, es zwickt ihn da. Er misst die Tage nicht in Stunden, sondern in Tabletten. Er holt sich eine zweite, eine dritte, eine vierte Meinung und lauert immer auf den nächsten Schub. Es vergehen keine fünf Minuten, dass er nicht von seiner Krankheit spricht. Er wird seine Krankheit.
Und dann gibt es den anderen Kranken, dessen Leben plötzlich kürzer und dadurch wertvoller wird.
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